Iran-Konflikt: Zehn Fragen an Doğu Perinçek

Doğu Perinçek ist Vorsitzender der Vatan Partisi (»Vaterlandspartei«), einer türkischen nationalsouveränistischen, laizistischen Partei, die sich gegen Islamisierung und Verwestlichung, EU-Beitritt und NATO-Mitgliedschaft stellt. Perinçek pflegt enge Kontakte zum Iran und wurde nach der Ermordung des iranischen Generals Kassem Soleimani durch die USA umgehend von der Führung der islamischen Republik in Istanbul besucht, um diplomatische Gespräche zu führen.

Um die eurozentrische Sicht auf den Iran-USA-Konflikt um eine alternative Stimme zu ergänzen, haben wir mit Perinçek ein ausführliches Interview geführt, das wir hier in voller Länge wiedergeben.

Sehr geehrter Herr Perinçek, wenn wir verschiedenen transatlantischen Medien Glauben schenken, könnte die Ermordung General Kassem Soleimanis der Auslöser für einen »Dritten Weltkrieg« sein. Handelt es sich hierbei um die übliche Hysterie oder steht uns tatsächlich ein Krieg bevor?

Die USA hat in Westasien verloren. Im September 2017 konnte das illegale »Unabhängigkeitsreferendum«, das die Ausrufung eines sogenannten Kurdistans im Nordirak zum Ziel hatte, und das eigentlich als ein zweites »Israel-Projekt« bezeichnet werden muss, vereitelt werden. Die Einigkeit der westasiatischen Länder (Iran, Türkei, Irak) und ihre Bereitschaft, nötigenfalls auch zu den Waffen zu greifen, um diese illegale Ausrufung zu verhindern, war erfolgreich. Die Übereinkunft dieser westasiatischen Länder und ihre militärische Präsenz – auch gegenüber den USA – sind der entscheidende Faktor zur Vorbeugung realer Kriegsgefahr.

Nachdem Kassem Soleimani nun gefallen ist, bröckelt die sunnitisch-schiitische Teilung weiter und die westasiatischen Länder nehmen eine entschlossenere Position gegenüber den USA ein. Der angekündigte Abzug der US-Truppen aus dem Irak macht deutlich, dass der Widerstand Westasiens gegen die US-Politik die Kriegsgefahr reduziert. Die transatlantischen Medien versuchen jedoch mit der gewohnten Hysterie, die westasiatischen Länder einzuschüchtern. Die Kriegsgefahr würde aber erst dann wirklich aktuell und real werden, wenn der Iran und Westasien Angst vor einem Krieg hätten.

Dass die Ermordung Soleimanis eine »rote Linie« überschritten hat, die weit über die Scharmützel hinausgeht, die sich amerikanische und iranische Spezialeinheiten im Irak, Syrien und Jemen liefern, ist sogar in der deutschen Politik recht unumstritten. Der US-Drohnenangriff könnte Trump außenpolitisch also weiter isolieren – und selbst seine üblichen europäischen »Hilfsnationen« in Opposition bringen. Warum also dieser Angriff? Und vor allem: Warum jetzt?

Das mag nun vielleicht etwas humoristisch klingen, aber könnte es womöglich sein, dass die USA versuchen, ihr eigenes Volk davon zu überzeugen, sich aus Westasien zurückzuziehen? Denn wenn wir uns das Ergebnis dieser Terroraktion genauer anschauen, scheinen die USA sich in den eigenen Fuß geschossen zu haben. Ihr Rückzug aus Westasien hat sich beschleunigt. Nach dem Einsturz der »Zwillingstürme« im September 2001 hat die US-Führung  ihr Volk zum Krieg in West- und Zentralasien überredet – und hatte damit auch einen passenden Grund zur Hand. Jetzt scheint sie mit diesem Terroranschlag das Volk zum Rückzug vom Krieg überreden zu wollen.

Bekanntermaßen sagte Donald Trump im Oktober 2019, dass die Entscheidung, im »Mittleren Osten« militärisch und politisch aktiv geworden zu sein, die schlimmste Entscheidung (»the worst decision ever«) in der Geschichte der USA gewesen sei. Dieses Unterfangen habe 8 Billion US-Dollar gekostet. Diese enormen Ausgaben wurden von ihm als Argument für einen baldigen Rückzug ins Feld geführt. Mehrfach kündigte er bereits einen Rückzug an. Allerdings sind in den Machtzentren der USA auch diejenigen aktiv, die darauf bestehen, weiterhin im Irak und in Syrien präsent zu sein. Nun sieht sich diese, zumeist als »Neocons« bezeichnete Gruppe, als Kriegsbefürworter mit der US- Öffentlichkeit konfrontiert.

Der junge deutsche Publizist Johannes Konstantin Poensgen bezeichnete den Drohnenangriff kürzlich als einen »Geniestreich« der »Kriegsfraktion in Washington«. Weit davon entfernt, ein Sympathisant der Amerikaner zu sein, stellte Poensgen recht nüchtern in den Raum, dass die Ermordung Soleimanis die iranische Regierung in eine nahezu unlösbare Situation gebracht habe: Entweder sie reagieren mit Gewalt auf die Ermordung und lösen so eine kriegerische Kettenreaktion aus – inklusive aller Folgen für den Nahen Osten. Oder sie reagieren gar nicht – und verlieren so das Gesicht im eigenen Volk. Was denken Sie über diese Zwickmühle? Und hat Poensgen vielleicht eine Handlungsmöglichkeit übersehen?

Der Iran ist entschlossen, nötigenfalls mit Waffengewalt gegen die USA vorzugehen. Nach dem Terroranschlag der USA auf Soleimani hat der Vertreter des iranischen Staatsoberhaupts Ajatollah Ali Chamenei, Ajatollah Seyyid Hasan Amili, mich umgehend in Istanbul besucht und die persönliche Botschaft Chameneis überreicht.

Sie lautete: Der Iran fürchtet sich nicht vor dem US-Imperialismus und wird seine Entschlossenheit nicht aufgeben! Diese Botschaft ist keine Motivationsfloskel, sondern Ausdruck echter Initiative und Bereitschaft. Es wäre gut und ratsam, wenn alle Parteien dies zur Kenntnis nehmen würden. Jetzt, nachdem das iranische Militär zwei US-Stützpunkte im Irak mit Raketen angegriffen hat, ist es nicht der Iran, der vor seinem Volk an Ansehen verliert, sondern die USA. Zudem scheint es so, dass die USA es sind, die nun überlegen, einen Schritt zurück zu treten.

Auf der einen Seite stehen also die USA, die in Westasien verloren haben, und ihren Anspruch nicht aufrechterhalten können. Auf der anderen Seite steht der Iran, der gezwungen ist, seine Entschlossenheit fortzusetzen, zugleich sein Volk zusammenzuführen und sich mit den westasiatischen Ländern, sowohl den sunnitischen als auch den schiitischen, weiter zu verbünden. Innenpolitisch kommt hinzu, dass in den USA derzeit eine Spaltung und im Iran eine Einheit innerhalb des Volkes zu verzeichnen ist. An der internationalen Front wird die USA zunehmend isoliert, der Iran gewinnt hingegen an Kraft.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Islamischen Republik Iran wurde über der Wahlfahrtstätte der Dschamkarān-Moschee in Ghom die »Rote Fahne der Blutrache« gehisst. Handelt es sich hierbei lediglich um einen symbolischen Akt, der vor allem das iranische Volk betrifft, oder ist diese Fahne auch als Aufruf an die islamische Welt zu verstehen?

Das Hissen der »Roten Fahne der Blutrache« muss ganz grundsätzlich als Signal an das iranische Volk verstanden werden – zur Stärkung der eigenen Moral und Entschlossenheit. Die Fahne symbolisiert die Autorität der iranischen Führung gegenüber dem eigenen Volk und macht die proatlantische Opposition im Iran wirkungslos. Sie ist nicht als kriegerischer Aufruf an die islamische Welt zu verstehen. Doch als Botschaft der eigenen Entschlossenheit ist sie durchaus zu verstehen – auch gerichtet an alle, die sich solidarisch mit dem Iran zeigen.

Wie der kürzlich verstorbene türkische Admiral Soner Polat in seinem Buch Geopolitik im Fluss der Zeit (erscheint dieses Jahr exklusiv bei Jungeuropa!) gekonnt ausführt, befindet sich die Türkei in der Rolle eines Wanderers zwischen den Welten: nämlich Asien und Europa. Welche Bedeutung hat der schwelende Konflikt im Allgemeinen, und im Speziellen die Ermordung Soleimanis für die Türkei?

Das Buch des ehemaligen Vorsitzenden der Vatan Partisi (»Vaterlandspartei«), Admiral Soner Polat, könnte auch wie folgt betitelt werden: Blaue Heimat – Eine türkische Abrechnung mit dem atlantischen System. Die Türkei hat sich von den Ketten des atlantischen Systems befreit und nimmt ihren stolzen Platz in Asien ein. Soner Polat nimmt hier eine besondere Rolle unter den Strategen dieser Entwicklung ein und kann ohne Übertreibung als einer der Helden dieses Prozesses bezeichnet werden. Der Fokus der Abrechnung der Türkei mit dem atlantischen System liegt heute im östlichen Mittelmeer.

Der Kampf der Türkei für das eigene Vaterland ist heute zu einem Kampf um die »Blaue Heimat« geworden. Die Türkei wehrt sich im östlichen Mittelmeer gegen die militärische Bedrohung eines Quartetts bestehend aus den USA, Israel, Griechenland sowie Südzypern und ist entschlossen, die ihr zustehenden Energie- bzw. Rohstoffquellen in ihrer »Blauen Heimat« nicht ausbeuten zu lassen. Admiral Polat gehörte übrigens zu den Erfindern des Begriffs der »Blauen Heimat« in der Türkei.

Der türkische Präsident Erdogan kondolierte als erstes der iranischen Regierung. Vor einigen Jahren war das unvorstellbar. Zeichnet sich eine weitere iranisch-türkische Zusammenarbeit ab? Was bedeutet diese für die NATO-Mitgliedschaft der Türkei?

Die Türkei wurde im Grunde schon längst aus der NATO verbannt. Die auf US-Linie eingeschworene NATO betrachtet die Türkei als potentielles Ziel verschiedener Aggressionen und definitiv durch eine »feindschaftliche« Brille. Die Türkei und Russland, gar Deutschland haben sich durch die Gaspipelines »Turkstream« und »Northstream« aneinander gebunden. Verschiedene Versuche, die Türkei und den Iran gegeneinander aufzuwiegeln, waren erfolglos und sind dazu verdammt, es zu bleiben. Die USA haben versucht, Westasien in ein sunnitisches und ein schiitisches Lager zu spalten, und ist auch damit gescheitert. Im Zuge dieser Entwicklungen wird die Türkei sich langfristig von der NATO entfernen. Noch wahrscheinlicher ist sogar, dass die NATO zerfällt. War es nicht der französische Präsident Emmanuel Marcon, der die NATO kürzlich als »hirntot« bezeichnete?

Wenn sich die Türkei und der Iran näher kommen im Zeichen einer westasiatischen Allianz: Was kann das für Syriens Unruheregion Idlib bedeuten, wo die Türkei Rebellengruppen unterstützt, während Soleimanis Truppen gemeinsam mit der legitimen Regierung Syriens kämpfen? Steht hier eine Lösung in Aussicht?

Der Prozess der Sicherung der territorialen Integrität Syriens nähert sich dem Ende. Die einzige Option hierfür ist die Regierung Baschar al-Assads. Auch die Türkei befindet sich in einem Prozess, sich diesen Umstand einzugestehen. Daher sollte niemand davon ausgehen, dass die Türkei sich in Nordsyrien gegen den Iran, Russland und Syrien stellen wird – schon gar nicht an der Front. Die Lösung der dortigen Probleme ist auch hinsichtlich der Notwendigkeit des Zusammenhalts im östlichen Mittelmeer und in Libyen notwendig und wichtig. Gestern war Wladimir Putin in Syrien, heute in der Türkei (Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde am 08.01.2020 geführt.). Es werden Lösungen besprochen. Ein Abkommen steht auf der Tagesordnung.

Im Zuge der schwelenden Konflikte könnte sich eine weitere, ungewöhnliche Allianz auftun: Das sunnitisch-islamistisch geprägte Katar scheint dem schiitisch geprägten Iran zur Seite zu springen, während das ebenfalls sunnitisch-islamistisch geprägte Saudi-Arabien mit den USA verbündet ist. Das bedeutet auch: salafistischer Wahhabismus (Saudi-Arabien) gegen Muslimbruderschaft (Türkei, Katar). Wie passt das zusammen?

Wie gesagt, der amerikanische Plan, Westasien in ein sunnitisches und ein schiitisches Lager zu spalten, ist gescheitert. Auf der einen Seite befindet sich die mehrheitlich sunnitische Türkei, der mehrheitlich schiitische Iran, Syrien, der Irak und der Libanon, wo Sunniten, Schiiten und Alawiten sowie Christen leben. Das sunnitische Katar und das christlich-orthodoxe Russland kommen hinzu. Auf der anderen Seite das jüdische Israel, das wahhabitische Saudi-Arabien und die konfessionell gemischten Golfemirate. Die Front verläuft nicht auf einer konfessionellen und religiösen Achse, sondern basiert auf dem Widerstand gegen den Druck und die Bedrohung durch die Achse USA-Israel.

General Kassem Soleimani war über 20 Jahre Befehlshaber der Al-Quds Spezialeinheit und ist u.a. dafür verantwortlich, dass der Kampf gegen den IS im Irak erfolgreich war. Was bedeutet seine Ermordung für den Kampf gegen den IS und ähnliche Organisationen, also die Situation im Nahen und Mittleren Osten im Allgemeinen?

Der IS ist ein Produkt der USA. Wie auch die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) steht er unter der Kontrolle der USA und wurde durch sie bewaffnet und ausgebildet. Um das zu verstehen, reicht ein Blick in den amerikanischen Kriegshaushalt. Sowohl Obama als auch Trump haben dies zudem offen zugegeben. Der IS und die PKK brauchen sich nicht zu freuen, dass Soleimani getötet wurde, denn die USA haben zugleich verloren und das Ende der sich auf US-Linie befindenden Terrororganisation ist absehbar.

In unserer Region hat sich vom Schwarzen Meer bis zum Golf von Oman ein großer Frontverlauf herauskristallisiert. Die Frontabschnitte Krim, Abchasien, das unter armenischer Besatzung stehende Bergkarabach, die Ägäis, das östliche Mittelmeer, Zypern, Libyen, Palästina, Syrien, der Nordirak, die Straße von Homs und der Jemen sind Schlachtfelder einer großen Front, die immer klarer hervortreten. Auf der amerikanisch-israelischen Achse haben die Ukraine, Georgien, Griechenland, die PKK, Saudi-Arabien, die Golfemirate und Südzypern ihre Stellung bezogen. An der humanistischen Front wiederum Russland, die Türkei, der Iran, Abchasien, Aserbaidschan, die Türkische Republik Nordzypern, die libysche »Regierung der nationalen Einheit«, Syrien, der Libanon und der Irak.

Ägypten und Westeuropa befinden sich derzeit in der Position des Vermittlers. Sie teilen Interessen mit der humanistischen Front. Die Übereinkunft der westasiatischen Länder und die zunehmende Isolation der USA haben die Bündnisfähigkeit der Türkei gestärkt. Die Ausrichtung der Türkei gen Asien vollzieht sich nun noch entschiedener.

Erst kürzlich absolvierten iranische, russische und chinesische Marineeinheiten ihre erste gemeinsame Übung. Sollten die USA tatsächlich weitere militärische Schritte gegen den Iran unternehmen, müssten China und Russland, wollen sie nicht als Papiertiger in die Geschichte eingehen, militärisch an der Seite des Irans stehen. Stehen wir am Anfang eines neuen »Kalten Krieges« mit China als Opponent? 

Die Wahrscheinlichkeit, dass Russland und China militärisch in diesen Konflikt eingreifen, scheint gering. Wenn die USA tatsächlich so wahnsinnig geworden sein sollten, einen »Dritten Weltkrieg« in Kauf zu nehmen, müssten sie die Situation weiter anfachen und den Konflikt ausbreiten, um Russland und China militärisch zu involvieren. Gleichzeitig werden die mit verschiedenen wirtschaftlichen Mitteln geführten Zermürbungsbestrebungen der USA gegenüber China und Russland fortgeführt werden. Doch wie auch immer, mittelfristig scheint für die USA keine andere Option zu bestehen, als sich in das »eigene Haus« zurückzuziehen. Die USA, die mit Waffengewalt in Westasien eingedrungen sind, verlassen die Region auch wieder mit Waffengewalt. Es zeichnet sich kein Krieg, sondern ein Happy End ab. 

Im Windschatten des ursprünglichen Geistes der Monroe-Doktrin wurde Trump zum Präsidenten gewählt. Er versprach dem amerikanischen Volk, sich aus Westasien zurückzuziehen und sich um die innenpolitischen Probleme seines Landes zu kümmern. Die Entwicklungen nach dem Tot Soleimanis ermöglichen Trump nun die letzte Ausfahrt vor dem Krieg zu nehmen. Die »neokonservativen« Kriegsbefürworter in den USA verlieren, doch Trump könnte durchaus als Gewinner hervorgehen.

Wir bedanken uns ganz herzlich für das ausführliche Interview.

Das Interview führte Philip Stein. Aus dem Türkischen übersetzt von Kemal Cem Yilmaz.

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