Ein Volk ist nicht nur ein genetischer Bestand

Der Inlandsgeheimdienst der Bundesrepublik Deutschland, der sogenannte Verfassungsschutz, hat kürzlich verschiedene rechte Organisationen als »gesichert rechtsextrem« eingestuft und somit eine klare Feindmarkierung vorgenommen. Der maßgebliche Grund für diese Kategorisierung als »Staatsfeinde« besteht in der Tatsache, dass jene Organisationen am »ethnischen Volksbegriff« festhalten. Begriffe wie »Volk«, »Identität« oder »Nation« sind seit Jahrzehnten der Dreh- und Angelpunkt eines politischen Deutungskampfes, der von immenser Bedeutung ist. Der französische Philosoph Alain de Benoist widmet diesem Thema und den genannten Begriffen in seinem aktuellen Sammelband daher zahlreiche Leitartikel. Einen dieser Leitartikel, erstmals veröffentlicht im Jahr 2019, stellen wir Ihnen und Euch hier kostenfrei zur Verfügung. Das Buch kann hier gekauft werden.

Alain de Benoist: Wir und die anderen

Das Thema Identität ist heute allgegenwärtig, sowohl im täglichen als auch im öffentlichen Leben, auch wenn man hier zwischen der (wohl anerkannten) Identität der Minderheiten und der (stets verdächtigen) Identität der Mehrheiten unterscheiden müsste. Wie dem auch sei, vor allem rechts, aber auch manchmal links definieren sich Menschen als »Identitäre«. Ihre Vorgehens-weise ist völlig gerechtfertigt, ihre Aktionen ebenso spektakulär wie willkommen, und die repressiven Maßnahmen, die auf sie niederprasseln, können die ihnen entgegengebrachte Sympathie nur verstärken.

Der Gebrauch des Begriffs »identitär« regt dennoch zum Nachdenken an. Er passt bestimmt sehr gut zu politischen Bewegungen, zu Aktivisten, die sich einem Kampf zu einem bestimmten Thema (etwa Migration) verschrieben haben. Auf eine bestimmte Denkschule lässt er sich hingegen schwer anwenden, und noch weniger auf jemanden, der aufgrund einer bestimmten Weltanschauung theoretische Überlegungen anzustellen versucht. Ich werde nun versuchen, es zu begründen.

Der Begriff der »Identität«, so wesentlich er auch sein mag, bleibt trotzdem äußerst unscharf, da er wie gesagt sowohl bezeichnet, was uns von anderen unterscheidet, als auch das, was uns mit manchen von ihnen ähnlich (oder gar »identisch«) macht. Der Identitätsbegriff entzieht sich dennoch jedem Versuch, ihn klarer zu fassen und einzugrenzen.

Von welchem Europa ist die Rede?

Wie jeder weiß, ist Identität nicht eindimensional, sie hat viele Facetten: Wir besitzen eine Sprachidentität, eine philosophische oder religiöse Identität, eine ethnokulturelle Identität, eine berufliche Identität, eine Geschlechtsidentität, eine weltanschauliche Identität usw. Alle diese Facetten sind mehr oder weniger eng miteinander verzahnt, doch messen wir ihnen nicht die gleiche Bedeutung bei. Manche scheinen uns wichtiger als andere zu sein. Diese sind es, die uns zu unseren Verpflichtungen und Solidaritätsbekundungen motivieren. Dieses Engagement und diese Solidarität werden bei allen, die doch viel gemeinsam haben, nicht gleichermaßen ausfallen.

In diesem Band versammeln wir erstmals zahlreiche ausgewählte Editorials Alain de Benoists aus der Prestigezeitschrift éléments, von den 1980er-Jahren an. Es sind mehr als 70 prägnante Texte, die den Widerstandsgeist wecken und Wissen vermitteln. Mehr geht nicht in einem Buch.
Im Falle der »Identitären« steht eindeutig die nationale, kulturelle oder zivilisatorische Identität im Vordergrund. Es geht darum, die Identität etwa Frankreichs oder Europas zu verteidigen, was überaus sympathisch klingt. Das löst aber nicht das Problem, denn man muss im Vorhinein abklären, worin diese Identität besteht, von der man eine unterschiedliche, ja gar gegensätzliche Vorstellung haben kann. Das Frankreich Chlodwigs I. ist mit dem Frankreich der aufständischen Kommunarden von 1871 nicht vergleichbar, ebenso das Europa der »großen Männer« mit dem Europa der Völker.

Was aber noch wichtiger ist: Die Überzeugung, Europa verteidigen zu müssen, sagt uns nichts darüber, zu welcher Weltanschauung wir uns bekennen, welche Gesellschaftsform wir errichten, welche Regierungsform wir annehmen und welches Wirtschaftssystem wir aufbauen sollten. Der Grund dafür ist einfach: Europa hat im Laufe seiner Geschichte alles erfunden. Es hat völlig entgegengesetzte Philosophien, völlig unterschiedliche Wirtschaftsformen und politische Systeme hervorgebracht. Die vorgeschlagene Palette ist so breit, dass das Bekenntnis, »ein Europäer zu sein«, nicht ausreicht, um eine Wahl zu treffen. Die Identität lenkt auf kein bestimmtes politisches oder philosophisches System. Sie eignet sich daher kaum zur Bezeichnung eines Denksystems oder einer Denkschule.

Vom Selbstwertgefühl zum Selbstkult

Angesichts der lächerlichen Aufforderungen zur Reue und »Buße« behauptet manch einer, er sei »stolz, ein Europäer zu sein«. Warum nicht? Ist hier aber auch die Wortwahl richtig? Die Mode der »Stolz« bekundenden Bewegungen und Veranstaltun- gen kam aus Amerika zu uns, man denke vor allem an die Gay-Pride-Paraden. Das englische Wort pride bedeutet jedoch sowohl »Stolz« als auch »Hochmut«, was ich als störend empfinde. Kann man überhaupt seinen Stolz bekunden, ein Europäer zu sein? Ich persönlich bin glücklich, ja ausgesprochen glücklich, ein Europäer zu sein, bin aber keineswegs darauf »stolz«. Eventuell kann man darauf stolz sein, was man selbst getan oder zu tun versucht hat bzw. was man selbst verwirklicht hat. Aber stolz auf das zu sein, was man ist? Dann ebensogut stolz darauf sein, Arme und Beine zu haben! Bei genauerem Hinsehen weisen »Stolz« und »Buße« ähnliche Merkmale auf: Buße besteht darin, sich auf die eigene Brust zu schlagen wegen Verfehlungen, die man nicht begangen hat; Stolz darin, sich mit Großtaten zu brüsten, die man nicht vollbracht hat.

Sich als »identitär« zu bekennen, heißt auch, sich entschieden in eine Perspektive reiner Subjektivität zu stellen – eben jene Metaphysik der Subjektivität, die zum gegenwärtigen Narzissmus führte. In einer solchen Perspektive läuft das »Wir« Gefahr, zu einer bloßen Addition von einzelnen »Ichs« zu werden: zu einem kollektiven Ego, zum Individualismus der Nationen auszuarten. Ein erweitertes Ich, eine gesteigerte Subjektivität, die sich in einem Klima kollektiver Psychose äußert. Vom notwendigen Selbstwertgefühl geht man zum abscheulichen Selbstkult (bzw. zur Anbetung der Herkunft) über. Will man aus dieser Subjektivität herauskommen, muss man nicht nur im Namen einer Zugehörigkeit (eines Volkes, eines Staates, einer Kultur usw.) kämpfen, sondern auch im Namen einer Weltanschauung, die unter anderem den Schutz der Zugehörigkeiten rechtfertigt – was überhaupt nicht das Gleiche ist. Für sein Volk einzutreten ist gut, gegen das völkerzerstörende System zu kämpfen ist besser.

Nicht nur der Inhalt weiß zu überzeugen.

Sein Volk zu verteidigen bedeutet, sowohl dessen Wesen als auch dessen Kultur zu schützen, denn beide sind beim Menschen untrennbar miteinander verbunden. Man sollte daher gleichermaßen Abstand nehmen sowohl von den Verfechtern einer rein »ethnischen« Auffassung der Zugehörigkeit, die das Gen um jeden Preis verteidigen wollen, als auch von den »Weltbürgern«, die dem Glauben anhängen, dass Völker nicht existierten bzw. aus dem Nichts entstünden. Ein Volk ist nicht nur ein genetischer Bestand, es stellt vor allem eine Geschichte dar, also eine Reihe von Ereignissen und Entwicklungen. Spengler erinnerte daran, dass Geschichte die Völker hervorbringt und nicht umgekehrt. Er fügte hinzu, dass nicht die gemeinsame Herkunft ein Volk formt und prägt, sondern die Überzeugung, dass seine einzelnen Komponenten es gemeinsam verteidigen können. Es reicht nämlich nicht, das Erbe derer weiterzugeben, die uns vorausgegangen sind; man muss auch die Handlungsfähigkeit weitergeben, die sie Zeit ihres Lebens an den Tag legten und unter Beweis stellten. Es ist nämlich hauptsächlich die Praxis, die die Menschen zu dem macht, was sie sind. Die Identität ist letztlich weniger das, was man ist, als das, was man aus dem macht, was man ist.

Zum aktuellen Sammelband von Alain de Benoist geht es hier.

Ein Gedanke zu „Ein Volk ist nicht nur ein genetischer Bestand“

  1. Ich frage mich angesichts dieses Artikels gerade, ob Franzosen gute Ratgeber in Sachen Identität sind. Benoist erwähnt in dem Artikel das „Frankreich Chlodwigs I.“. Richtiger müßte es wohl „Frankenreich“ heißen, denn Chlodwig war germanisch und sprach einen germanischen Dialekt und eben nicht den gallo-romanischen Vorläufer des heutigen Französisch. „Französisch“ war an Chlodwig I. gar nichts – vielleicht abgesehen von seiner protofranzösischen Ehefrau.
    Die Franzosen sind nunmal ein Mischvolk aus Gallo-Romanen mit einer kleinen germanischen Oberschicht, die jedoch im Zuge der Französischen Revolution weitestgehend entmachtet und marginalisiert wurde. Statt wie früher den Franken (Chlodwig und Karl der Große) gedenkt man heute eher den Galliern („Asterix und Obelix“) als Urvätern der heutigen Franzosen. Wenn also ein Franzose das Volk nicht nur als genetischen Bestand ansehen will, dann deshalb, weil es in Frankreich in dieser Hinsicht nicht so eindeutig ist. – Ganz anders jedoch in Deutschland. Wir waren immer Germanen, kleine Einsprengsel von Hugenotten, Polen oder anderen Zuwanderern haben daran nichts geändert. Diese hatte sich schnell mit den Germanen vermischt und so wurden deren Nachkommen auch zu Germanen. Von daher ist in Deutschland das Volk daher eindeutig genetisch bestimmbar.
    Das soll aber nicht heißen, dass man von Benoist nichts lernen könnte. Ich freue mich schon sehr, das Buch in den Händen halten zu können. Allein schon des kraftvollen Titels willen: „Den Westen brechen“.

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