»Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag. Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen […], ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.«
(Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus)
Der Futurismus – Eine Übersicht
Die obigen Zeilen entstammen dem Manifest des Futurismus, das der italienische Dichter und Jurist Filippo Tommaso Marinetti am 20. Februar 1909 in der französischen Zeitung Le Figaro publizierte. Marinetti wurde damit zum Schöpfer und bekanntesten Vertreter des Futurismus. Der Futurismus ist keinesfalls mit so etwas wie Science-Fiction gleichzusetzen; es handelt sich dabei um eine zeitlich, inhaltlich und auch personell klar umrissene Kunstrichtung. Die Futuristen nahmen Friedrich Nietzsche, Georges Sorel und Pierre-Joseph Proudhon begeistert auf und feierten Geschwindigkeit, Männlichkeit und Gewalt, verachteten hingegen aber Feminität, Überkommenes und Pazifismus. Sie forderten den radikalen Bruch mit der Vergangenheit in allen Bereichen des Lebens und begrüßten jede Form der Veränderung.
Ihre Sympathien reichten daher folgerichtig auch bis hin zu anarchistischen Gruppen und deren teils tödlichen Anschlägen. Marinetti sympathisierte offen mit den Faschisten Mussolinis, befand sich dabei aber immer im Spagat zwischen dem Futurismus als gesamtgesellschaftlicher Bewegung und einer Reduktion derselben auf das Feld der Politik. In seinem Buch Futurismus und Faschismus pries er 1924 den Faschismus als die natürliche Fortsetzung der futuristischen Idee.
Diese Sympathien für den italienischen Faschismus führen, so zumindest meine Vermutung, in Teilen der politischen Rechten zu einer mitunter positiven Rezeption des Futurismus. Wie ansonsten konservative Menschen, die etwa das Bauhaus wegen dessen angeblicher Geschichtslosigkeit rundheraus ablehnen, es gleichzeitig mit sich vereinbaren können, dem Futurismus etwas abzugewinnen, der diese explizit forderte, bleibt deren Geheimnis.
Der Futurismus war mehr als eine Kunstbewegung, aber eben auch eine solche. Und insbesondere die Werke aus allen Bereichen der Kunst sind zuweilen die einzigen Spuren, die er hinterließ. In den Bereichen der bildenden Künste, der Literatur und auch der Architektur waren Futuristen immer auch Avantgardisten. Gleichzeitig verstanden sie es aber, in gewisser Hinsicht bodenständig und der Realität verhaftet zu bleiben, während andere avantgardistische Künstler – meist jene, die sich eben nur auf dieses Fach beschränkten – in Verrücktheiten abdrifteten. (Wer einmal Werke der russischen Avantgarde mit denen der Futuristen vergleicht, wird erkennen, was ich meine.)
Wider den »Passatismus«
Eine auf alle Lebensbereiche angewandte Kernaussage der Futuristen lautete: »Wider den ›Passatismus‹!« Damit war alles Althergebrachte gemeint, neben den Denkmustern der Vergangenheit auch insbesondere deren Institutionen. So sprach sich Marinetti schon in seinem Manifest dezidiert gegen Museen, Bibliotheken und Akademien aus, die man zerstören müsse. Dass es sich dabei nicht nur um Lippenbekenntnisse handelte, zeigt die Biografie Enrico Prampolinis, der sein Studium der Malerei in Rom abbrach, nachdem er das Manifest des Futurismus unterzeichnet hatte.
Die Motive des Futurismus waren, wie nicht unüblich für die Moderne im Allgemeinen, in die er zweifelsohne einzuordnen ist, Flugzeuge, Züge, Autos und generell alles, was mit Maschinen und Bewegung zu tun hat. Geschwindigkeit wurde zum zentralen Motiv. In den vorgenannten drei Bereichen ist all dies natürlich unterschiedlich gut darstellbar.
Der Futurismus in der bildenden Kunst
Die bildende Kunst ist hierbei natürlich besonders ergiebig, und so zeigen insbesondere futuristische Gemälde den auch für Kunstlaien nachvollziehbaren – und nur allzu oft erfolgreichen – Versuch, Geschwindigkeit und Dynamik darzustellen.
Der Futurismus in der Literatur
In der Literatur war diese Darstellung schon schwieriger. Marinetti schuf zwar eine eigene Gattung, den »Afrikanischen Roman«; dieser sollte aber leider nur ein Werk umfassen, nämlich Marinettis eigenen Roman Mafarka der Futurist. Dieses Werk wurde allerdings in weiten Teilen schon vor dem Manifest des Futurismus verfasst, und so ist strittig, ob es tatsächlich als futuristisch zu bezeichnen ist. Außerdem ist dieser Roman bis heute fast völlig unbekannt. Das nicht zuletzt wegen seiner geradezu abstrusen Handlung, die von Mafarka-el-Bar erzählt, der jedwede Sexualität ablehnt und ein technoides Mischwesen erschafft, welches in der Lage ist, mit vogelähnlichen Flügeln zu fliegen. Ein deutscher Autor, der futuristische Elemente in seine Werke einfließen ließ, war Alfred Döblin. Unter anderem in Berlin Alexanderplatz machte er vom Stilmittel der Simultaneität Gebrauch, um Gleichzeitigkeit und Dynamik zum Ausdruck zu bringen.
(Weiterführend hierzu auch »Zertrümmerungen – 100 Jahre Futurismus«.)
Der Futurismus in der Architektur
Im Bereich der Architektur war es nun am schwierigsten, futuristisch zu wirken, da hier alle Prozesse besonders langwierig sind, die Umsetzung am kostenintensivsten ist und das (Bau-)Werk auch die höchste Interaktion mit der Gesellschaft aufweist. Ebenso ist die behördliche Reglementierung am stärksten.
Es ist ein etwas problematisches Unterfangen, dezidiert futuristische Architektur aufzuzeigen. Vieles kam nicht über das Entwurfsstadium hinaus, teilweise aus den bereits erwähnten Gründen. Bei anderen Projekten lässt sich zumindest ein futuristischer Einfluss nicht leugnen; sie als Beispiele genuin futuristischer Architektur zu bezeichnen, führte allerdings zu weit.
Doch der Reihe nach: Am Anfang stand auch hier ein Manifest, das Manifest der futuristischen Architektur. Es wurde von Antonio Sant’Elia verfasst, der auch als der berühmteste Architekt des Futurismus gelten kann. Seine Entwürfe griffen das Motiv der Technik auf und setzten es in einer umwerfenden Originalität in Szene, die schon für sich allein genommen künstlerischen Ansprüchen genügt. Die Umsetzung der meist an Kraftwerke erinnernden Gebäude scheiterte an seinem zwar tragischen, doch einem Futuristen zur höchsten Ehre gereichenden frühen Tod im Ersten Weltkrieg: Sant’Elia fiel im Alter von 28 Jahren während der achten Isonzoschlacht.
Ernüchtert muss man feststellen, dass es keine umgesetzte futuristische Architektur gibt. Allerdings existiert ein Bauwerk in Italien, das dieser gelegentlich zugerechnet wird – und dies nicht ohne Grund. In den Jahren 1916 bis 1923 ließ der italienische Automobilhersteller Fiat im Turiner Stadtteil Lingotto ein neues Fabrikgebäude errichten und beauftragte damit den Architekten Giacomo Mattè-Trucco. An und für sich sind Fabrikgebäude keine besonders spannende oder reizvolle Bauaufgabe, weshalb der Industriebau auch meist den Bauingenieuren überlassen wird. Doch das Fiat-Werk in Lingotto sollte etwas Besonderes werden. Es entstand in einer Zeit, als das Automobil auch in Europa groß zu werden begann. Zwar war es hier erfunden und weiterentwickelt worden, seinen Durchbruch verdankte es allerdings den Produktionsideen des US-Amerikaners Henry Ford und dessen Erfindung der Fließbandherstellung.
Der Fiat-Konzern perfektionierte diesen Gedanken im Turiner Werk mit der Hilfe Mattè-Truccos: Die Produktionsstraße im Werk in Lingotto wand sich von Produktionsschritt zu Produktionsschritt über Rampen kontinuierlich durch das Gebäude – von Etage zu Etage. Gekrönt wurde das Gebäude mit einer eigenen Teststrecke auf dem Dach, die für sich genommen schon Beton gewordene futuristische Tollkühnheit darstellt. Das Fiat-Werk in Lingotto ist also futuristische Architektur, ohne sie zu sein. Er verkörpert durchaus Marinettis Ideale der Beschleunigung, der Motorisierung und der Tollkühnheit. Leider ist nicht überliefert, wie er selbst sich zu diesem Bauwerk geäußert hat.
Fegt das Alte hinfort!
Zum Abschluss dieser kurzen Einführung sei festgehalten, dass ein radikaler Bruch mit allem Alten sowie der Vergangenheit nötiger denn je erscheint. In dieser Beziehung können wir uns vom Futurismus einiges abschauen. Keine Bewegung verstand es, diesen Bruch vollumfänglicher zu propagieren und immer wieder in die Tat umzusetzen. Beschränkten sich andere avantgardistische Bewegungen meist auf nur einen Bereich des Lebens – allzu oft war es »nur« die Kunst –, griff der Futurismus nicht nur auf die Politik seiner Zeit über, sondern suchte alle Bereiche des Lebens in einer wirklichen Bewegung zu verbinden.
Das viel zu oft bemühte »Ewige«, welches es laut vielen Konservativen zu bewahren oder auch neu herauszuarbeiten gelte, wird sich – so zumindest meine Herangehensweise –, wenn es denn so ewig ist, durchsetzen und geradezu überzeitlich triumphieren. Deshalb: Hinfort mit allen Konservatismen! Gebt Raum dem Neuen, macht Platz der Jugend!
(Autor: Jörg Dittus)