Frankreich und die Europawahlen – Interview mit Alain de Benoist

Die französischsprachige bretonische Website Breizh-info.com hat Alain de Benoist befragt zu seiner Sicht auf die vergangenen Wahlen zum Europäischen Parlament, die Auflösung des französischen Parlamentes und die bevorstehenden Neuwahlen, das politische Theater, das sich derzeit abspielt, und natürlich auf die »zwei Wochen des Hasses«, die Frankreich derzeit auf Veranlassung der Linken erlebt.

Was denken Sie über die Entscheidung von Präsident Macron, die Nationalversammlung aufzulösen? Sehen Sie darin eine notwendige Maßnahme oder ein Zeichen politischer Instabilität?

Es war vor allem eine unvermeidliche Maßnahme. Wie hätte Macron nach einem solchen Wahldesaster schweigen können? Ich sehe darin kein Zeichen politischer Instabilität, sondern vielmehr das logische Ergebnis eines vor mehr als 15 Jahren begonnenen Prozesses der Neuformierung. Es wäre gewiss ein großer Fehler, das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament lediglich als eine Bewegung vorübergehender Wut zu sehen. Die Diagnose ist längst gestellt worden. Seit der Revolte der »Gelbwesten«, ganz zu schweigen von früheren Ereignissen, hat Emmanuel Macron ein Misstrauen und eine Feindseligkeit von beispiellosem Ausmaß auf seine Person gelenkt. Mit einer Industrie, die nur noch 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmacht, einer Staatsverschuldung von drei Billionen, einem Zinsaufwand von mehr als 55 Milliarden pro Jahr, fünf Millionen Arbeitslosen, neun Millionen Armen und nicht zuletzt einer von den Großunternehmern gewollten Masseneinwanderung, die überall gleichbedeutend mit Unsicherheit wahrgenommen wird, wird den einfachen Menschen klar, dass das System in ein Endstadium eingetreten ist. Der Prozess hat sich nur beschleunigt dank eines Ratchet-Effektes, der sich in einem »plötzlichen qualitativen Sprung« niederschlug, in dessen Folge sich die tektonischen Platten zu bewegen begannen. In diesem Sinne kann die Europawahl als historisch bezeichnet werden.

Der RN hat bei diesen Wahlen einen großen Erfolg erzielt. Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach zu diesem Anstieg der Unterstützung für den RN beigetragen?

Ich habe es gerade angedeutet: Der Hauptgrund für den Erfolg des RN ist – über die allgemeine Diskreditierung der herrschenden politischen Klasse hinaus – das veritable Schisma, das sich heute zwischen einer immer größeren Zahl von Bürgern und »denen da oben« auftut. Die soziale und politische Spaltung, die überall in Europa, aber insbesondere in Frankreich zu beobachten ist, hat dazu geführt, dass die Mehrheit der Bürger nicht mehr dieselbe Sprache spricht wie die integrierten oder höheren Schichten. Dies ist eine Situation, in der es um Existenzielles geht. Der »Block der Mitte« hat aufgrund seiner Unfähigkeit, seine Versprechen zu halten und der Realität ins Auge zu sehen, jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Die wichtigste Triebfeder der Wahl ist ein tiefes Gefühl des sozialen Niederganges, das [der Geograf und Essayist] Christophe Guilluy schon vor längerer Zeit beschrieben hat.

Jordan Bardella hat doppelt so viele Stimmen erhalten wie die »Präsidentenmehrheit«, die nur noch 15 Prozent der Stimmen (und nur 8 Prozent der registrierten Wähler) auf sich vereint! Er hat in allen Regionen, in 94 Prozent der Gemeinden und in allen Altersgruppen einschließlich der Jugendlichen und der Rentner die Nase vorn gehabt. Man kann also von einer soziologischen Verallgemeinerung sprechen. Angesichts eines solchen Kräfteverhältnisses ist es einfach nicht glaubwürdig, wie Emmanuel Macron so zu tun, als würden alle, die seine Ansichten nicht teilen, zu den »Extremen« gehören. Die Forderungen von mehr als 50 Prozent der Franzosen als »rechtsextrem« zu bezeichnen bedeutet in Wirklichkeit, die extreme Rechte zu legitimieren!

Wie werden die kommenden Parlamentswahlen die politische Landschaft Frankreichs Ihrer Meinung nach umgestalten?

Logischerweise sollte das Ergebnis der Parlamentswahlen die Wahlen zum Europäischen Parlament bestätigen, wenn nicht sogar verstärken. Es gibt zwar große Unterschiede zwischen einer einzigen Wahl in einem Wahlgang und 577 Wahlen in zwei Wahlgängen und mit Mehrheitswahlrecht, aber es ist ebenso offensichtlich, dass alle Wahlen, egal welcher Art, heute von vornherein zu einem Referendum für oder gegen Emmanuel Macron werden. Im Wettbewerb stehen sich nun drei Blöcke gegenüber. Doch der Mehrheitsblock, in diesem Fall der vom Rassemblement National getragene Volksblock, ist sehr geschlossen, während die beiden anderen sowohl in der Minderheit als auch gespalten sind. In vielerlei Hinsicht erleben wir das Ende des Macronismus unmittelbar mit.

Einige scheinen zu glauben, dass die von ihnen herbeigesehnte Einheit der Rechten nun Wirklichkeit wird. Das ist nicht meine Meinung. Der RN ist nicht dabei, die verschiedenen Rechten zu einen, sondern absorbiert seine Konkurrenten. Die Bewegung »Reconquête!« ist bereits unter dem Einfluss der Rivalitäten zwischen [Éric] Zemmour und Marion [Maréchal] explodiert, was vorhersehbar war, während die Republikaner ihren Abstieg in die Hölle fortsetzen: Die einen sind dazu bestimmt, sich dem RN anzuschließen, die anderen dazu, zu Ersatz-Macrons zu werden, während diejenigen, die weder das eine noch das andere wollen, auf dem Müllhaufen der Geschichte landen werden. Im Übrigen bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Zukunft des RN nicht in der Einheit der Rechten liegt, sondern im Zusammenbruch der Mitte.

Zeitgleich mit dem Aufstieg des RN beobachten wir einen Anstieg der Unterstützung für linksextreme Splittergruppen. Was sind Ihrer Meinung nach die Triebkräfte dieser Parallelentwicklung?

Genauso wenig, wie ich in der Vergangenheit an eine »gläserne Decke« oder an die Dauerhaftigkeit des Cordon sanitaire geglaubt habe, glaube ich heute an eine »Rote Gefahr«. Die »Neue Volksfront« [linkes Parteienbündnis von 2024] ist nur ein mittelmäßiger Ableger der »Nupes« [»Neue Ökologische und Soziale Volksunion«, linkes Parteienbündnis von 2022], und die hastige Zusammenstellung eines »Programms«, das sowohl für [André] Glucksmann als auch für Raphael Arnault, für [François] Hollande und Philippe Poutou [Vertreter verschiedener Spielarten des frz. Sozialismus] geeignet sein soll, ist ganz einfach grotesk. Die Prozessionen der Konvulsionäre [religiöse Eiferer des 18. Jahrhunderts], die derzeit auf der Straße stattfinden, bedienen sich der Strategie des Protestes gegen die Castor-Transporte (»Blockade« gegen die extreme Rechte), was sie vor allem als Dinosaurier erscheinen lässt. Diese Leute, die das Vorwärtskommen nur mit Blick in den Rückspiegel begreifen, haben nichts mehr zu sagen außer eine »Rückkehr des Faschismus« zu beschreien, und das in einer Zeit, in der die Mehrheit der Menschen sich nicht über einen nicht existierenden »Faschismus«, sondern über die ganz konkrete Wirklichkeit – wie die wachsende Unsicherheit, die sinkende Kaufkraft, die soziale Ausgrenzung und die Verallgemeinerung der Prekarität – Sorgen macht.

Die »Neue Volksfront« kann eigentlich nur eine einzige Hoffnung haben, nämlich zu verhindern, dass der Rassemblement National nach dem zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht. Das würde den Marsch ins Chaos nur beschleunigen.

Wie werden sich diese politischen Veränderungen Ihrer Meinung nach in Bezug auf den sozialen Zusammenhalt und die öffentliche Politik auf die französische Gesellschaft auswirken?

Alles hängt davon ab, wie die Cohabitation [Sonderfall infolge vorgezogener Neuwahlen, bei dem der Staatspräsident keine Parlamentsmehrheit hat] ablaufen wird, falls es dazu kommen sollte, und davon, was Jordan Bardella tun will und vor allem tun kann. Emmanuel Macrons Kalkül beruht auf der Annahme, dass es für den Premierminister einer Cohabitation-Regierung immer sehr schwierig ist, die Politik umzusetzen, die er zu verfolgen gedenkt. Er geht daher davon aus, dass der Rassemblement National, wenn er mit den Fälligkeiten konfrontiert wird, seine Misserfolge vervielfachen, seine Inkompetenz unter Beweis stellen und sich nach und nach diskreditieren wird. Der mögliche Erfolg des RN bei den Parlamentswahlen wäre somit die paradoxe Garantie für seine Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen. Die Hypothese ist nicht auszuschließen: Bardella wird das Staatsoberhaupt, das Verfassungsgericht, die Europäische Union, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die Herrschaft der Richter und die Finanzmärkte gegen sich haben – das ist eine ganze Menge. Ich glaube jedoch, dass Paraden möglich sind. Die Macron’sche Entscheidung, das Parlament aufzulösen, bleibt ein Pokerspiel oder, wenn man so will, mindestens eine riskante Wette.

Welche Auswirkungen werden diese politischen Veränderungen in Frankreich Ihrer Meinung nach auf die Beziehungen zur Europäischen Union haben?

Die Europäische Union ist durch die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament, die wir gerade erlebt haben, ziemlich geschwächt worden. Die Ungewissheiten, mit denen sie konfrontiert ist, werden sicher noch zunehmen. Ich glaube jedoch nicht, dass sich die Machtverhältnisse in der EU in nächster Zeit wirklich wesentlich ändern werden. Anders wäre es, wenn das, was gerade in Frankreich passiert ist, auch in einigen anderen großen europäischen Ländern geschähe.

Wie würden Sie die derzeitige Einstellung der französischen Öffentlichkeit gegenüber ihren Institutionen und ihrer politischen Führung beschreiben? Müssen wir befürchten, dass es in den nächsten Wochen wieder zu politischer Gewalt auf hohem Niveau kommt?

Eine Intensivierung der Gewalt ist in der Tat sehr gut möglich. Aber von welcher Gewalt reden wir, und wo genau beginnt sie? Lesen Sie in diesem Zusammenhang erneut Über die Gewalt von Georges Sorel. Oder die Essais sur la violence von Michel Maffesoli, der deutlich macht, dass Gewalt gleichzeitig zerstörerisch und schöpferisch sein kann (Karl Marx nannte sie den großen »Geburtshelfer« der Geschichte). Die Angst vor der Gewalt führt oft dazu, dass Dinge akzeptiert oder legitimiert werden, die viel schlimmer sind als die Gewalt. Realistischer ist, anzuerkennen, dass unter bestimmten Umständen eine Kraftprobe unvermeidlich ist.

Welchen Blick haben Sie schließlich auf den Bruch, die faktische, laufende, anerkannte Sezession zwischen den Metropolen und dem ländlichen Raum, zwischen diversen Bevölkerungsgruppen, die offensichtlich nicht mehr zusammenleben können und werden?

Wir erleben heute neue Formen der Tribalisierung und der »Archipelisierung« (Jérôme Fourquet). Die Hauptursache dafür ist, dass die organischen Formen des Gemeinschaftslebens durch die Moderne systematisch zerstört wurden. Die Gesellschaft hat nunmehr Vorrang vor der Gemeinschaft, und diese Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Individuen. Für die Liberalen findet jede Analyse des gesellschaftlichen Lebens aus dem Blickwinkel des soziologischen Individualismus statt. Die Ideologie der Menschenrechte, die die Zivilreligion unserer Zeit ist, bekennt sich ebenfalls dazu, dass die öffentliche Hand allen individuellen Ansprüchen gerecht werden müsse, was zwangsläufig zu einem Krieg aller gegen alle führt.

Jenseits all dieser Spaltungen gibt es jedoch relativ stabile Einheiten, zu denen ich den Gegensatz zwischen dem peripheren Frankreich und den großen, globalisierten Metropolen, zwischen den Somewheres und den Anywheres – denjenigen, die noch eine verwurzelte Lebensweise haben, und denjenigen, die sich als »Weltbürger« bezeichnen – zählen würde. Dieser Gegensatz ist das Ergebnis der Sezession der Eliten, auf die die »Sezession des Pöbels« (Secessio plebis) geantwortet hat. Auch hier ist der Prozess seit Langem im Gange. Es wird spannend zu sehen, wie er sich weiter entwickeln wird.

(Übersetzung: Mat Royer und Nils Wegner)

2 Gedanken zu „Frankreich und die Europawahlen – Interview mit Alain de Benoist“

  1. Interessant wäre die Frage, inwieweit dann Frankreich zum Protektionismus zurückkehrt und ob außenpolitisch eine Abkehr von der Ukraine-Unterstützung zu erwarten ist?

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