Wien in Not

Hinweis: Dieser Beitrag schließt lose an unseren Bericht aus Belgrad an. Wie schon bei ebenjenem Ausflug ist die Zuordnung einzelner Stimmen nicht ganz einfach, da Alkohol, Aufregung vor einer Lesung und (in diesem Fall) gewaltinduziertes Adrenalin die Erinnerung täuschen. Möglicherweise haben wir auch einige Passagen ganz erfunden, um strafrechtliche Nachforschungen zu erschweren.

Vorn, da steht ein Cembalo. Für die, die es nicht wissen: Das ist ein Tasteninstrument. Es sieht aus wie ein Flügel, nur kleiner. Dieses Cembalo ist alt, sehr alt. Vielleicht aus dem 17. Jahrhundert. Hier im Ferdinandihof hat sich das Cembalo die richtige Umgebung gesucht. Also, wenn man davon ausgeht, dass die Dinge ineinander greifen wie in einem Uhrwerk (wovon ich überzeugt bin und wie auch dieser Abend beweisen wird).

Im Ferdinandihof sieht alles aus wie im 17. Jahrhundert: das Cembalo natürlich mit einer Deckenbemalung, die eine Satyrszene zeigt, das Gewölbe, Gemälde und Wandteppiche. Und vorn steht – über den Kamin an die Wand gelehnt – ein Bild von Jean Raspail, und der gehört ja irgendwie auch in das 17. Jahrhundert. Zumindest würde er das von sich selbst sagen: eine Gemeinsamkeit, die er wohl mit vielen hier im Raum teilt.

Ronald Schwarzer führt unvergleichlich durch den Abend.

Am deutlichsten wird dies in Form von Ronald Schwarzer selbst, der in seiner Eigenschaft als Maitre de Plaisir et des Cérémonies von Patagonien zu Wien mehrfach das Wort ergreift, seine Scherze zum Besten gibt und uns durch den Abend führt. Mehrmals erwähnt er, dass sein eigener Horizont mit dem Jahr 1789 ende. Stolz schwingt in seiner Stimme mit, wenn er solche Dinge sagt. Selbstverständlich in diesem Raum, in dieser Zeitkapsel, in diesem Schwarzen Loch, das Instrumentarien der alten Zeit ansaugt und alles Moderne ausspuckt. Ich werde nachher, unter Kerzenschein, aus meinen Büchern vorlesen, von einem iPad.

Schwarzer jedenfalls trägt eine barocke Fantasieuniform, natürlich in seiner Eigenschaft als MC der »Patagonischen Nächte«. Auch sein Gesinnungsgenosse Konrad Weiß trägt einen solchen, wenn auch schlichteren, aber nichtsdestoweniger edlen Uniformrock. Kleider machen Leute, und Weiß bekleidet das Amt des Vizekonsuls von Patagonien zu Wien. Er erklärt, wieso es »Patagonische Nächte« in Wien gibt. Und was das mit dem französischen Schriftsteller Jean Raspail zu tun hat. Ich kann das gar nicht nacherzählen, weil ich gar nicht so reden kann wie Schwarzer oder Weiß, wie Wiener oder wie Patagonier.

Zeitreisender: Der französische Autor Jean Raspail.

Es ist eine Parallelwelt für die Preußen unter uns, die in diesen Raum eintreten und dabei ein Zeitportal durchschreiten. Weiß und Schwarzer kleiden sich dazu in ihre Anzüge, aber man merkt bereits nach wenigen Worten, dass »Patagonien« für manche Menschen niemals zu Ende ist, selbst wenn sie ihre Kleider wieder ablegen, das Cembalo schließen, den Saal verlassen und wieder Wiener sind. Draußen nagen der Wind und der Regen am alten Gemäuer, und dem Zeitreisen feindlich gesinnte Menschen fotografieren den Eingang des Gebäudes.

Es ist heiß, weil so viele Menschen hier sind. Etwa 150 sind gekommen. Vorhin, als wir zum ersten Mal den Saal betraten, war alles noch leer. Hinten, in die Ecke gequetscht, saß Götz Kubitschek, gewandet in eine graue Militärjacke, die ich später als eine schwedische M39 identifiziere. Ich kenne sie, ich trage selbst in diesem Moment eine M58 (ein späteres Modell, das man hauptsächlich daran erkennt, dass die beiden Brusttaschen sozusagen auf die Rückseite verfrachtet wurden). Er blickte nicht auf, er las in einem kleinen Büchlein. Die grauen Schweden erfreuen sich vielleicht deswegen so großer Beliebtheit, weil sie etwas preußische Tristesse ins barock-bunte Wien tragen. Oder weil sie geil aussehen.

Götz Kubitschek (ohne schwedische Armeejacke).

Später, als der Raum voll ist mit den Schwarzers und Weißens, liest Götz Kubitschek aus einem Raspail-Band vor. Er steht dort vorn, vor dem alten Cembalo mit der Satyrbemalung. Die schwäbische Herkunft hört man in seiner Stimme nicht. Er ist ein Preuße, wir sind die Preußen, die grimmig dreinblickenden, in graue Uniformen gekleideten Zeitreisenden in einer Zeitkapsel, Verlorene in verlorenen Hallen. Götz Kubitschek liest aus Jean Raspails Die blaue Insel:

Und dann sah ich sie. Erst einen, dann zwei, dann drei, und zwei Kradfahrer vorneweg. Plötzlich war der ganze Weg von ihrer graubraunen Stahlmasse ausgefüllt. Mehr noch als die Kanone an ihrem Turm, die wie der Zeigefinger Gottes aufragte und das unmittelbar über dem Bug versteckte Maschinengewehr, die mir blinde Drohungen schienen, waren es vor allem die Panzerketten, die mich entsetzten. Schon sah ich mich von der Masse dieser Kolosse zermalmt, zerfleischt von dieser Kette aus Reißzähnen, die endlos aufeinander folgten, bis nur mehr blutiger Matsch von mir übrig wäre. Die einzige vage Erleichterung, die ich empfand, kam von den schwarzgekleideten Soldaten, die bis zur Hüfte aus den offenen Luken der Panzertürme hervorragten. Vielleicht würden sie uns wenigstens bemerken, bevor sie uns überrollten? Trotz ihrer düsteren Uniformen sahen sie nicht wie Blutsäufer aus. Vielleicht würden sie ihre Maschinen gerade noch rechtzeitig anhalten? Der Mann auf dem Turm des ersten Panzers trug silberne Schulterstücke. Ein junges, fast kindliches Gesicht, mit aufmerksamen Augen unter dem Mützenschirm, aber nichts vom Blick eines Raubtiers. Ich legte alle meine Hoffnungen auf ihn. Wenn ich mich aus dem Schilf erhob, mein Alter und meinen Namen hinausschrie, irgendetwas, um seine Aufmerksamkeit zu erregen – er würde mich gewiß verschonen …

45 Minuten sind eine lange Zeit vor der Lesung. Ich sehe auf die Uhr an meinem Handgelenk, in einer Dreiviertelstunde wird es kurz nach neun sein. Weil »Patagonier« kein Wasser trinken, trinke ich Wasser, das dem Wasserhahn geraubt und in eine leere Weinflasche gefüllt wurde. Ich muss viel Wasser trinken, das nach Wein schmeckt. Das römische Imperium würde noch heute über diese Gefilde regieren, wenn die alten Römer gewusst hätten, dass die bleiernen Verkleidungen ihrer Wasserzufuhr massiv gesundheitsschädlich waren. Ich frage mich, ob die Römer gewusst haben könnten, was sie da tranken, und ob Blei einen Eigengeschmack hat. Ich frage Wegner, der gerade vorbeiläuft. In Jeans. Er grinst und sagt, das sollte ich mal Beethoven fragen. Was auch immer das schon wieder heißen soll.

»Außerdem danken wir für die Zubereitung der Erdäpfel der sehr verehrten Dr. Caroline Sommerfeld.«

»Hört, hört!«

»Aufgeregt?«

»Ja, schon.«

»Das kann ich verstehen. Ich bin immer ganz aufgeregt, wenn ich in der Küche stehe und koche.«

»Das wäre ich auch. Aber ich kann auch nicht kochen.«

»Ich bin der Ansicht, dass man einen Autoren am besten über sein Werk kennenlernt. Etwas von der Persönlichkeit wird man immer in seinen Büchern feststellen. Dennoch muss ich mich wohl vorstellen, soweit das nicht aus meinen Büchern hervorgeht. Also: Ich komme aus dem schwäbischen Teil des Allgäus. Darauf bin ich stolz. Außerdem bin ich der Sohn von Kriegsverbrechern. Auch darauf bin ich stolz …«

Ich lese aus Ins Blaue vor, es ist eine Stelle vom Ende des Buches:

Die Stadt, das Dorf viel eher, war trotz der Adolf-Hitler-Schule, der Ordensburg und der ganzen Flüchtlinge aus allen Teilen des Reichs doch ein Dorf geblieben, mit einem kleinen, historischen Stadtkern, einigen hübschen alten Häusern mit prächtigen Malereien an den Fassaden, der leise vor sich hin rauschenden Iller und, nicht weit davon, der kleineren Ostrach. Von Sonthofen nahmen wir die Straße Richtung Osten. Hätte ich mich in diesem Moment umgedreht, zurück auf die Stadt geblickt, hätte ich sie vielleicht sehen können, die kleinen Punkte am Himmel, die sich an diesem 29. April mit großer Geschwindigkeit auf Sonthofen zubewegten.

Die Sonne war im Osten aufgegangen und schien uns geradewegs ins Gesicht. Ich blickte aus dem Fenster, auf die sich emporreckenden Berge. Auf den Gipfeln bewegte sich etwas, kleine Menschlein liefen in Ketten darauf herum, entzündeten Rauchzeichen, so schien es zumindest, Leuchtfeuer vielleicht, um die neue Zeit gebührend zu empfangen. Ganz mulmig wurde mir dabei, wenn ich daran dachte, und dunkle Vorahnungen oder Erinnerungen überkamen mich.

»Öh-hö-hö!«

Im Beifall klingt anhaltender, beinahe 30-sekündiger Husten mit.

»Wenn’s der Lunge schlecht geht, sollten Sie vielleicht vor die Tür gehen.«

»Na, des kommd ned von uns.«

»Das ist da hinten. Liegt aber nicht an der Lunge. Eher am Alkohol.«

Unveröffentlichtes soll heute auch vorgetragen werden. Also von mir. Hier:

»Zypressensamen«, erklärte sie einmal und streckte ihre Hand aus. »Sie reflektieren das Licht des Mondes.« Tausende kleine zyanblau leuchtende Punkte schwebten über dem Ruinenfeld und verschwanden, sobald Christo nach ihnen zu greifen versuchte. Niemand habe eine Anstrengung unternommen, dieses Gebiet wieder urbar zu machen, sagte sie, und das sei gut so. Hier finde man Dinge, die man anderswo in der Stadt niemals sehen könne. Hier gebe es wilde Ziegen, Silberfüchse, kleine Rehe, Rosmarin, Thymian, Salbei, Milchsterne, Totenvögel, deren Ruf »Komm mit« über die antikisierte Heidelandschaft halle. Dinge, die man in der Stadt niemals hören, sehen oder riechen könne.

Spaßvogel Volker Zierke beim Lachen.

»Sagen’s, wie meinen Sie des denn mit den Kriegsverbrechern?«

»Na, jeder unserer Vorfahren war doch einer. Also, wenn man die falschen Leute fragt. Jeder Deutsche hat doch Dreck am Stecken. Aber … Moment mal!«

Irgendwie war es klar, dass es irgendwann auch einmal reicht. Und wenn Menschen aussehen, als hätten sie ein paar in die Fresse verdient, dann liegt das meistens daran, dass sie ein paar in die Fresse verdienen. Auf mich scheint das auch zuzutreffen, denn der erste Schwinger geht genau auf mein Auge. Ich weiß noch, dass ich etwas denke wie: »Oh nein, nicht hier, nicht hier in dieser schönen Zeitkapsel!«, aber irgendwer würgt den Störenfried bereits von hinten an der Kehle. Wie Konfirmanden, denen man in der Kirche ein Mikrofon zum rockig intonierten »Gott ist groß« hinreicht, stiebt die Menge auseinander, Stühle kippen um, ein Menschenknäuel fällt auf den Steinboden, zum Glück nicht auf das schöne Cembalo.

Ein blonder Student oder Arbeitsloser bekommt die Brille von der Nase geschlagen, er hat ein Ohrfeigengesicht. Schnell schreiten Leute ein, dann Leute, die die Einschreiter zurückhalten. Irgendjemand hat eine halbe Flasche Wein auf meinem Hemd ausgekippt. So schnell, wie die Situation eskaliert ist, beruhigt sie sich wieder. Mit Schramme im Gesicht und weindurchsetztem Gewand erläutere ich einigen Zuhörern meine Gedanken zu den deutschen Kriegsverbrechern.

»Von Jungeuropa erwarte ich nicht weniger als eine Schlägerei.« Ich stehe mit Konrad Weiß beisammen und trinke Bier aus Flaschen, als dieser Satz fällt. Unter der Zeitkapsel, durch altertümliche Katakomben hindurch und unter moderndem Gebälk liegt ein anderer Raum. Einer, den ich wohl als Industrieküche bezeichnen kann. Bestimmt hat Caroline Sommerfeld hier die Kartoffeln zubereitet. Helles Neonröhrenlicht und blitzende Stahlflächen bilden einen Kontrast zu dem Ort, an dem das Cembalo steht und das Kaiserreich noch lebt.

Wir tauschen einige nette Worte aus, Weiß und ich. Kurz darauf sind alle Preußen in ihren grauen Jacken in die regnerische Wiener Nacht entschwunden.

(Autor: Volker Zierke)

(Alle Fotos stammen von Michael Scharfmüller)

Ein Gedanke zu „Wien in Not“

  1. Das dürfte so ziemlich das Bizarrste sein, was ich seit langem gelesen habe! Der Hobby-Ethnologe Raspail hätte gewiss seine helle Freude daran gehabt. „Piefkes“ auf einer Veranstaltung in Österreich, das kann nicht gut gehen!

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