Im Folgenden geben wir ein Interview mit dem französischen Philosophen und Jungeuropa-Autoren Alain de Benoist auf dem Blog Boulevard Voltaire wieder. Diskutiert wird die Entstehung eines einwanderungskritischen Linkspopulismus. Bei Jungeuropa erschien zuletzt von Alain de Benoist der Klassiker Kulturrevolution von rechts (Dresden 2017) sowie zwei Aufsätze im Sammelband Marx von rechts (Dresden 2018).
Kürzlich sorgte die linke deutsche Politikerin Sahra Wagenknecht für Schlagzeilen, als sie eine Bewegung ins Leben rief, die eine Kontrolle der Einwanderung fordert. Diese Initiative sorgte auf der französischen Seite des Rheins sofort für Wirbel. Ist dies für Sie ein nebensächlicher, tagespolitischer Vorgang?
Überhaupt nicht. Ich denke sogar, dass es ein sehr wichtiges Ereignis ist. Zum einen, weil wir solche Vorstöße aus Deutschland für gewöhnlich nicht erleben und zum anderen, weil das von einer Persönlichkeit wie Sahra Wagenknecht so nicht zu erwarten war: Geboren wurde sie in Jena als Tochter eines Iraners. Sie ist marxistisch geprägt, promovierte zur Interpretation von Hegel durch den jungen Karl Marx und ist seit vier Jahren mit dem bekannten Linkspolitiker Oskar Lafontaine verheiratet. Wagenknecht ist Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke, Nachfolgepartei der DDR-Staatspartei SED. Der Start ihrer neuen Bewegung »Aufstehen« schlug im August/September wie eine Bombe ein. Bis zu 100.000 Interessenten aus dem linken Milieu sollen sich ihr bereits angeschlossen haben.
Dennoch dürfen wir uns über die Absichten von Frau Wagenknecht nicht täuschen. Obgleich sie dem Asylrecht – unter der Voraussetzung einer strengen Kontrolle (Asylberechtigte sollten in ihre Herkunftsländer zurückkehren, sobald die Ursachen für ihre Flucht beseitigt sind) – positiv gegenübersteht, stellt sie sich gegen eine laxe Einwanderungspolitik. Sie begründet dies mit deren Ablehnung durch die unteren Schichten sowie mit der negativen Lohnentwicklung durch offene Grenzen: Das Problem der Armut in der Welt könne nicht durch grenzenlose Einwanderung gelöst werden, da diese nur dazu führe, dass den Arbeitgebern billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Das ist ihre Haltung.
Handelt es sich hier nicht um einen Verrat an linken Grundprinzipien, mit dem sie bezweckt, die Wähler der Alternative für Deutschland (AfD), die sich in der politischen Landschaft Deutschlands immer stärker zu etablieren scheint, zurückzugewinnen?
Das könnte man bei oberflächlicher Betrachtung meinen. Ich denke jedoch, dass Sahra Wagenknecht erkannt hat, dass die Abkehr der Linken von der Verteidigung der Arbeiter und ihr Verzicht auf den Kampf gegen das Kapital ein Verrat an ihren Grundprinzipien ist und den Hauptgrund für den Erfolg der AfD bzw. des Rassemblement national (ehemals Front national) darstellt. Die Linke hat sich durch ihre Anpassung an die Marktgesellschaft und an die Ideologie des Konsumismus von den Menschen, ihren Erwartungen und Hoffnungen abgekoppelt. Mit der Entstehung von »Aufstehen« wird in diesem Sinne kein Verrat an den Prinzipien der Linken vollzogen. Es handelt sich vielmehr um die Renaissance eines Sozialismus, der seinen Anfängen treu ist.
Schon Karl Marx verurteilte den durch die Einwanderung von Arbeitern ausgelösten unlauteren Wettbewerb gegen das autochthone Proletariat und begriff Einwanderung als die Schaffung einer »industriellen Reservearmee des Kapitals«. Dies wurde und wird gerne vergessen. Die Kommunistische Partei Frankreichs, die in den fünfziger Jahren Verhütung und Abtreibung noch als »bürgerliche Laster« anprangerte, dachte früher auch nicht anders: Internationalismus und Kosmopolitismus waren ihrer Meinung nach nicht dasselbe. Heute unterstreicht Jean-Claude Michéa, Globalisierung sei die globale Ausdehnung des spekulativen und entwurzelten Kapitalismus, dessen Konsequenzen auf die Völker abgewälzt werden. Folgende in Vergessenheit geratene Aussagen standen für diese Haltung: »Einwanderung ist kein Glück für Frankreich« (André Gérin, früherer kommunistischer Bürgermeister in Vénissieux). Oder: »Wir müssen die Einwanderung stoppen und die Rückkehr auf freiwilliger Basis organisieren« (Jacques Nikonoff, kommunistischer Gewerkschafter, ehemaliger Präsident von »Attac«). Und 1981 – zu einer Zeit also, als der FN noch eine kleine Splittergruppe war – schrieb George Marchais (der langjährige Führer der Kommunistischen Partei Frankreichs) an den Vorsteher der Moschee von Paris: »Die Alarmstufe Rot ist erreicht. Ich warne: Wir müssen die offizielle und illegale Einwanderung stoppen.«
Es drängt sich die Frage auf, ob ein linker Populismus in Frankreich eine Perspektive hat.
Da möchte ich die folgenden entscheidenden Zahlen nennen: Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IFOP vom vergangenen Januar sind 51 Prozent der Wähler von Jean-Luc Mélenchon der Meinung, dass die Einwanderung sich in Frankreich zu schnell entwickelt. Von den Wählern Macrons teilen nur 31 Prozent diese Ansicht. Das ist jeder zweite Wähler der Bewegung Mélenchons! Es ist offensichtlich, dass die Bewegung France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon zwei ganz unterschiedliche Wählerschaften mobilisiert. Hier liegen die Gründe für den immer offener ausgetragenen Konflikt zwischen den Libertär-Progressiven wie Danièle Obono und Clémentine Autain auf der einen und den Befürwortern eines echten linken Populismus auf der anderen Seite. Djordje Kuzmanovic, Sprecher der France Insoumise für Internationales, der zur zweiten Kategorie gehört – er bewarb sich bei den letzten Wahlen zur Nationalversammlung als »patriotischer Kandidat« –, äußerte kürzlich in einem ebenfalls aufsehen erregenden Interview mit dem Magazin L’Obs, er könne nicht nachvollziehen, dass die Linke beim Thema Einwanderung die Haltung der Arbeitgeber einnehme. »Das gute Gewissen der Linken«, fügte er hinzu, »hindert uns daran, konkret darüber nachzudenken, wie wir die Migrationsströme verlangsamen bzw. austrocknen können.« Jean-Luc Mélenchon, bei dem ich aus guten Gründen annehme, dass er genauso denkt, pfiff ihn daraufhin aus wahltaktischen Gründen zurück. Dies ist meiner Meinung nach ein großer strategischer Fehler.
Bei der Lektüre des letzten Buches von Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus (Berlin 2018, frz. Original im selben Jahr bei Albin Michel), wird die Tragweite dieses Konflikts deutlich. Chantal Mouffe war die Ehefrau des vor wenigen Jahren verstorbenen argentinischen politischen Philosophen und großen Theoretiker des linken Populismus Ernesto Laclau, der von links und rechts gleichermaßen angegriffen wurde. Mouffe ist stark durch das Denken Carl Schmitts geprägt und übte selbst einen großen Einfluss sowohl auf Mélenchon als auch auf einige wichtige Politiker von Podemos in Spanien aus. In diesen Zusammenhang sollte Sahra Wagenknechts Initiative eingeordnet werden, genauso wie übrigens die Tatsache, dass sich die dänischen Sozialdemokraten seit kurzem einwanderungskritisch positionieren. Dies beweist: Die Frontlinie verschiebt sich.
Das Interview führte Nicolas Gauthier (Boulevard Voltaire, 25. September 2018).