Nur wenige Begriffe aus der Sprache sowohl der praktischen Politik als auch der politischen Theorie finden eine derart häufige Verwendung wie der des »Sozialismus«; eine Vielzahl von sogar bei oberflächlichem Blick extrem unterschiedlichen und heterogenen politischen Akteuren verfolgt die ideologische Zielsetzung, »sozialistisch« zu sein. Im Gegenzug behaupten mindestens genauso viele politische Akteure, der Sozialismus sei indiskutabel, weil er als System für Leid, Hunger und unzählige Tote verantwortlich sei. Unser Autor, der Soziologe Florian Sander, wirft einen knappen Blick auf die verschiedenen Varianten des Sozialismus und versucht damit, eine u.a. durch Robert Habeck und Kevin Kühnert brandaktuelle Debatte inhaltlich auf die Füße zu stellen.
Abgrenzung (I): »Realsozialismus« bzw. Stalinismus (im weiteren Sinne)
Im Artikel »Schreckgespenst Planwirtschaft« wurde auf funktionierende Varianten der Planwirtschaft in der DDR und in der UdSSR verwiesen, aber auch deutlich gemacht, dass dies auf keinen Fall auf ein Plädoyer für die »realsozialistischen« Systeme des Ostblocks hinauslaufen darf, die man auch als stalinistisch – im weiteren Sinne – bezeichnen kann (im engeren Sinne würde dies nur die Ära der Herrschaft Stalins in der Sowjetunion bedeuten).
Der sog. Realsozialismus war kein echter Sozialismus. Kernbestandteil eines jeden Sozialismus ist der Grundsatz des Anti-Imperialismus – den die Sowjetunion mit Füßen trat, wie zahlreiche historische Beispiele deutlich machen (so auch noch lange nach Stalin sichtbar im Rahmen der sog. Breschnew-Doktrin alias »Lehre von der begrenzten Souveränität sozialistischer Staaten«). So war auch die DDR kein natürlich gewachsener Sozialismus, sondern ein installierter Satellitenstaat, ein bürokratisches Herrschaftssystem, das einem Teil des deutschen Volkes die stalinistische Auslegung dessen aufzwang, was man für Sozialismus hielt, um sowjetische Machtausübung über Deutschland zu gewährleisten. Andersdenkende Genossen sperrte man ein; man sanktionierte sie beruflich; man drangsalierte ihre Familien.
Ein wesentlicher Teil des deutschen Volkes wurde im Lande eingesperrt. Spätestens seit Honeckers Machtübernahme wurde die deutsche Teilung nicht nur baulich, sondern auch politisch endgültig zementiert, sogar via Verfassungsänderung. Eine Politik des nationalen Interesses war das nicht – genauso wenig übrigens wie jene der BRD zu jener Zeit, deren »Entspannungspolitik« eine subtile Form des Imperialismus war, die der US-Politologe und Realpolitiker Zbigniew Brzezinski (später Nationaler Sicherheitsberater unter Jimmy Carter) schon Anfang der 1960er Jahre entworfen hatte.
Kein aufgezwungenes, dem Imperialismus einer anderen Macht dienendes System kann »Sozialismus« sein. Wenn also an dieser Stelle im rein ökonomischen Sinne auf die effizienten Varianten »realsozialistischer« Planwirtschaft verwiesen wird, so impliziert dies ganz ausdrücklich keine Parteinahme für deren übriges politisches System.
Abgrenzung (II): »Demokratischer Sozialismus« bzw. sozialdemokratischer Reformismus
Eine weitere Auslegungsform des viel verwendeten Begriffs des Sozialismus ist der der Sozialdemokratie: Der sog. »demokratische Sozialismus«, den die SPD bis heute im Programm hat (wohl auch ein Grund, warum sich deren Jugendorganisation als »Jungsozialisten« bezeichnet). Hier sehen wir jedoch eine weitere Pervertierung des Sozialismus-Begriffes, wenn auch eine, welche jener des »Realsozialismus« diametral entgegensteht. Diese politische Mutation sieht die Aufweichung des Sozialismus-Begriffes hin zu einem – im Leninschen Sinne opportunistischen* – Reformismus vor. Die Verhältnisse werden also nicht mehr von Grund auf geändert (sprich: revolutioniert), sondern reformiert. In dem Begriff steckt das Wort »Form« – es ändert sich also lediglich die Form der Verhältnisse.
Die Trotzkistin Lucy Redler zitiert hierzu in ihrem Buch Sozialismus statt Marktwirtschaft (2017) aus Rosa Luxemburgs Schrift Sozialreform oder Revolution:
»Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. […] Wer sich […] für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz […] zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß unwesentliche Veränderungen in der alten.«
In wenigen Sätzen wurde hiermit der Schritt der SPD zur Agenda 2010 und zur Hartz-Reform in den Jahren 2003/2004 vorausgesagt. Genau diese Stationen zeigen wunderbar auf, wohin sozialdemokratischer Reformismus führt. Dass von diesem ferner auch kein Anti-Imperialismus erwartet werden kann, wie die sozialdemokratische Außenpolitik seit dem Tode Kurt Schumachers bis heute aufzeigt, muss ebenfalls nicht weiter erklärt werden.
Abgrenzung (III): Anarchismus nach Bakunin und Kropotkin
Zu den Wurzeln sozialrevolutionären Denkens wird auch der Anarchismus nach Michail Bakunin und Pjotr Kropotkin gerechnet, den man aus heutiger Sicht wohl als die kurzsichtigste und daher letztlich auch dümmste Form dessen bezeichnen kann. Im Falle von etwas moderaterer Auslegung auch als Linkslibertarismus klassifizierbar, findet sie heutzutage oft auch Anklang bei Teilen der Antideutschen und des »Schwarzen Blocks« der Antifa, welche damit dann – wenn auch nicht selten nach lediglich oberflächlicher Rezeption der entsprechenden Ideologie – Gewaltaktionen gegen Polizisten und ähnliches rechtfertigen. Logisch auch, dass solche Ideologie mit pubertärem, grundsätzlich anti-autoritärem Krawalldrang gut harmoniert.
Kern dieser Sichtweise, die rein biografisch aus der autoritären Sozialisation der beiden russischen Adligen Bakunin und Kropotkin erklärbar ist (gewissermaßen: Anarchismus als lebenslange Trotzreaktion), ist die Ablehnung einer jeden staatlichen Herrschaft (inklusive der Diktatur des Proletariats im marxistischen Sinne) und das Ziel der Wiedereinführung eines staatenlosen Naturzustandes, in der jeder Mensch seine naturgegebene Freiheit bewahren könne (wie Bakunin und Kropotkin in falscher Interpretation Rousseaus postulierten). Wie zu erwarten war, traf das auf erheblichen Widerstand von Karl Marx, der Bakunin nicht nur in persönlicher Antipathie verbunden war, sondern diese Sichtweise auch zurecht als naiv empfand.
Doch man braucht nicht derlei Autoritätsargumente, um eine solche Zielsetzung als grundfalsch zu erkennen: Die herrschaftsfreie Gesellschaft ist eine, in der das Recht des Stärkeren gilt – ein Kampf jeder gegen jeden, eine Welt nicht nur ohne National-, sondern auch ohne Sozialstaat. Nicht umsonst kennen wir heute auch die Ideologie des »Anarchokapitalismus«, welche zu dieser Denkweise wohl eine engere Verwandtschaft aufweist, als es sich beide Seiten eingestehen werden.
Abgrenzung (IV): Trotzkismus
Die Sozialismus-Auslegung des Stalin-Gegners Leo Trotzki, die heute auch als Trotzkismus bezeichnet wird, wird von Stalinisten oft als »konterrevolutionär« angesehen. Obwohl dies natürlich eine sehr weitgehende Behauptung ist, so bietet der Trotzkismus dennoch zahlreiche Gründe, um ihn als illusorisch bezeichnen zu können.
Trotzki vertrat die »Theorie der Permanenten Revolution«, die er auch in Abgrenzung zu Stalins Vorstellung vom »Sozialismus in einem Land« schuf. Will übersetzt heißen: Für Trotzki ist die Revolution ein langer, wechselhafter Vorgang, der von zahlreichen Schritten nach vorne und zurück geprägt ist, und somit eigentlich nie wirklich vollendet ist. Und noch wichtiger: Sozialismus kann es für ihn erst in einem Weltstaat geben; Revolution ist für ihn immer Weltrevolution. Einzelne Nationen sind aus seiner Sicht so sehr mit anderen verquickt, dass diese nie wirklich aus dem Kapitalismus ausbrechen könnten.
Nun ist es natürlich nicht falsch anzuerkennen, dass die Einbindung in eine kapitalistische Weltwirtschaft und andere globale Strukturen es einem Land in der Tat massiv erschweren kann, erfolgreich sozialistische Politik zu betreiben. Und dennoch ist es falsch, hieraus eine Unmöglichkeit basteln zu wollen: Es kommt eben darauf an, wie der betreffende Staat seine Beziehungen nach außen gestaltet. Hier eine solche Unmöglichkeit als Prämisse zu setzen, die Revolution zu etwas permanentem und damit eigentlich nie vollendetem zu erklären und letztlich einen Weltstaat anzustreben, bedeutet de facto Globalismus: Auflösung kollektiver Identitäten bei gleichzeitigem Eingeständnis, dass das Ziel eigentlich nie ganz erreicht werden kann.
Dass sich auf diese Weise niemals eine echte Revolution wird entfalten können, erkennt jeder, der auf die erfolgreichen sozialistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts schaut. Diese brauchten stets eine nationale Rahmung, eine kollektive Identität, um für das revolutionäre Subjekt attraktiv zu werden. Ohne dies geht es nicht. Und somit wohnt auch dem Trotzkismus stets das Scheitern inne.
Abgrenzung (V): Kritische Theorie/Frankfurter Schule
1. Klassische Kritische Theorie nach Adorno/Horkheimer
Bei dem – wertfrei und philosophisch gesehen – bahnbrechenden Werk der klassischen Frankfurter Schule nach Theodor Adorno und Max Horkheimer haben wir es mit einer neo-marxistischen Sichtweise zu tun, die sich jedoch fundamental von anderen Auslegungen unterscheidet. Beide Autoren erklärten das »Primat der Theorie« und vertraten dabei eine ausgemachte Praxisfeindlichkeit, die ihre Theorie letztlich von realen politischen Vorgängen entkoppelte.
Einerseits glänzen Teile von Adornos und Horkheimers Werken durch intellektuelle Brillanz: Hierbei wären insbesondere die Kritik an der kapitalistischen Kulturindustrie, die Vernunftkritik (siehe Dialektik der Aufklärung) sowie Adornos Perspektive zu Fragen der Moral (siehe Minima Moralia) zu nennen. Andererseits erschöpfen sie sich in schier endloser Resignation und Pessimismus, die jeden Idealismus in einer geradezu depressiven Sackgasse enden lassen.
Adornos Forschungen zum Nationalsozialismus stützen sich auf die recht dünnen Thesen zur »autoritären Persönlichkeit« und basieren auf den tiefenpsychologischen Prämissen der heute in weiten Teilen überholten Psychoanalyse nach Freud. Man richtet sich ein in einer sich zurücklehnenden Anti-Haltung – mit intellektueller Schärfe zwar, aber letztlich als Kritik ohne erkennbares Ziel; bei gleichzeitiger pauschaler Verdammung revolutionärer Ambitionen.
2. Theorie des kommunikativen Handelns nach Habermas
Jürgen Habermas kann, bei soziologischer und nicht nur rein philosophischer Betrachtung seines Werkes, getrost als einer der am meisten überschätzten deutschen Intellektuellen bezeichnet werden. Von der Soziologie in die Philosophie geflüchtet, liefert Habermas ein theoretisches Flickwerk, das sich aus Elementen der klassischen Kritischen Theorie und der soziologischen Systemtheorie zusammensetzt. Richtigerweise geht er von einer »Kolonialisierung der Lebenswelten« durch das System des Spätkapitalismus aus, zieht aber daraus bestenfalls als reformistisch zu bezeichnende (Nicht-)Konsequenzen, die zu Ende gedacht auf eine sozialdemokratische »Abfederung« des kapitalistischen Systems hinauslaufen.
Habermas kann mit einiger Berechtigung als der Vordenker des aktuellen linksliberalen bundesrepublikanischen Mainstreams betrachtet werden, der Globalismus, Linksliberalismus und Neoliberalismus in einer unheilvollen »Suppe« vereint und dadurch jegliche echte sozialistische Kritik eher beerdigt als unterfüttert hat. Ein ergänzender Blick auf Habermas‘ traurige Rolle im Historikerstreit der 1980er Jahre untermauert diese Einschätzung nochmal mehr als deutlich.
Der chinesische Weg: Maoismus
Mao Tse Tung, Vater der chinesischen kommunistischen Revolution, hat ebenfalls einen umfassenden schriftlichen Beitrag zu sozialrevolutionären und sozialistischen Fragestellungen geliefert, der ideologisch gemeinhin als Maoismus tituliert wird. Einerseits kreierte er eine eigene Guerilla-Theorie und verfasste Analysen zum Partisanen-Krieg, welche sich mit der militärischen und taktischen Seite von – gewalttätigen – Revolutionen befassten. Diese sollen an dieser Stelle unkommentiert bleiben.
Andererseits – und das ist hier interessanter – ging es Mao immer auch um eine theoretische Beleuchtung der politisch-strategischen Frage des sozialistischen Übergangs. Diese ist hier insofern interessant, als dass er sich dabei dezidiert von Trotzki absetzt, der eine Beteiligung der Bourgeoisie an der Revolution ablehnte und diese Aufgabe ganz Arbeitern und Bauern zuschrieb. Mao hingegen befürwortete eine Allianz mit dem revolutionswilligen Teil des Bürgertums. Diese Grundhaltung spiegelt sich letztlich noch heute in der Wirtschaftsordnung des chinesischen Kommunismus wider, die es China ermöglicht, im globalen Kapitalismus zu bestehen und zu wachsen.
Zugleich trat Mao jeder anarchistischen Bestrebung im Rahmen von Revolutionen entgegen; ebenso wie auch Gewaltexzessen wie Vergewaltigungen und Plünderungen. Von ihm stammt in diesem Zusammenhang der Satz:
»Die Partei kommandiert die Gewehre und niemals darf zugelassen werden, dass die Gewehre die Partei kommandieren.«
Dem Maoismus wohnt jenes anti-imperialistische Moment inne, das dem stalinistischen »Realsozialismus« seit jeher fehlte – was sich auch an der inspirativen Wirkung zeigte, die er etwa ab den 1950er Jahren auf viele Befreiungsbewegungen der Dritten Welt hatte. Als Konzept ist er speziell auf die chinesischen Verhältnisse zugeschnitten und daher nicht auf etwa jene in Europa übertragbar. Sichtbar ist jedoch, dass er das anti-imperialistische Versprechen glaubwürdiger hat einlösen können als es die Staaten des »realsozialistischen« Ostblocks je taten.
* Opportunismus bedeutet in diesem Kontext so viel wie Aufgabe des Klassenkampfes zugunsten von Zusammenarbeit.
(Autor: Florian Sander)
Anmerkung: Dieser Artikel besteht aus einer überarbeiteten Zusammenfügung mehrerer Facebook-Beiträge des Autors zum Thema im Frühling 2018. Der anspruchsvollere Leser möge also den hier zuweilen etwas »legeren« Schreibstil verzeihen.
Was jeder real existierende Sozialismus von links gemeinsam hat: Keine Achtung vor dem eigenen Volk, wendet er sich stets bewusst oder unbewusst gegen das eigene Volk, spaltet es.