01.03.2022, Lemberg
Heute soll es eigentlich nach Shytomyr losgehen, eine Stadt in der Nähe von Kiew. Sie hätte unser Sprungbrett in die Hauptstadt werden können. Ein Hotel hatten wir schon reserviert, doch wieder einmal macht uns die falsche Informationslage einen Strich durch die Richtung. Zwischen Shytomyr und Kiew stünden bereits russische Kräfte und die Autobahn sei nicht mehr passierbar. Die Information findet sich nicht nur im Internet, sondern wird mir auch von Freunden aus Kiew geschickt. Sie raten mir dringend von ab, über oder nach Shytomyr zu fahren und auch die Werbetexte für internationale Freiwillige enthalten mittlerweile den Hinweis, nicht über Shytomyr zu reisen. Hinzu kommen die Meldungen vom erwarteten Großangriff auf Kiew, für den die russischen Kolonnen bereits im Anmarsch wären.
Zähneknirschend planen wir um – ein weiterer Tag Lemberg. Einige geplante Stationen haben wir zum Glück noch, darunter eine umfunktionierte Bibliothek, in der nun zahlreiche Frauen an improvisierten Tarnnetzen nähen. Sie sind nicht nur überaus freundlich, sondern auch sichtlich erfreut darüber, uns ihren Beitrag zum Kampf zeigen zu können. Als wir am Abend wieder vorbeikommen, sehen wir das verrichtete Tagwerk, zwei Tarnnetze sind vor den Bibliotheken aufgespannt und warten auf ihren Bestimmungsort. Überhaupt scheint sich die Stadt zu wandeln, immer mehr Geschäfte schließen und die Anzahl der Barrikaden steigt ebenso wie die der aus aller Welt hineinströmenden Journalisten. Mittlerweile hält uns auch keiner mehr wegen Fotos an, zu viele Leute laufen mittlerweile mit Kameras herum und filmen, fotografieren und fragen. Wir hatten wohl einfach das Pech, zu den Ersten gehört zu haben.
Auch das Medienzentrum hat weiter aufgerüstet und mittlerweile auch zweisprachige Zettel mit wichtigen Punkten (Flüchtlingsunterkünften, Blutspendestellen etc.) und der geltenden Gesetzeslage vorbereitet. Uns scheinen die jungen Frauen besonders gerne zu haben – vielleicht liegt es am ersichtlichen äußeren Unterschied zu den »Kollegen«, die das Zentrum sonst so bevölkern. Der Großteil könnte ohne Verkleidung Undercover-Recherchen in verbonzten Berliner Hipster-Vierteln tätigen, während unsere Ausrüstung wohl eher an »Outdoor-Sportler« erinnert. Vielleicht liegt die Sympathie der Mediendamen aber auch daran, dass ich eine von ihnen auf ihr (vermeintliches) Svastone-T-Shirt anspreche (es war dann doch keines der bekannten ukrainischen Marke, aber eines mit einem ähnlichen Motiv: ein Totenkopf mit zwei gekreuzten Sturmgewehren und dem Text »Russische Soldaten nicht willkommen«) und mich mit Slawa Ukrajini! verabschiede, was mir zusätzliche kritische Blicke der »Kollegen« einbringt. Nur über die Möglichkeiten nach Kiew zu kommen, wissen die sonst so hilfreichen Frauen vom Medienzentrum, wie jeder andere, den wir fragen, auch nichts.
Ob noch Züge nach Kiew fahren, lässt sich nicht herausfinden; die Schlangen am Bahnhof sind zu lang, und auf der Seite der ukrainischen Bahn werden zudem keine angezeigt. Auch Svat meint, es würden keine mehr fahren. Also weiter durch Lemberg, das sich zusehends auf den Krieg vorbereitet. Kirchenfenster werden durch Pressspanplatten abgedeckt, und Svat erzählt, dass er morgen ein Treffen des Heimatschutzes haben wird. Angeblich sollen Waffen ausgeteilt werden, genaues weiß er aber nicht. Unterwegs sehen wir auch die ersten, kleineren Schlangen vor Apotheken.
Unterwegs fällt mir ein junger Mann mit Barett in einer Cargohose auf, der auf einem der größten Plätze ein Interview auf Englisch gibt. Wir warten in gebührendem Abstand und sprechen ihn nach gegebenem Interview an. Bingo, wie vermutet – einer der internationalen Freiwilligen. Er stimmt zu, dass er auch uns ein Interview gibt und wir Fotos von ihm machen dürfen. Das Interview wird separat veröffentlicht werden, wir sind aber durchaus über die Antworten überrascht. Ralf hat keine politischen Beweggründe und kämpft, wenn er nicht gerade gegen die Russen in den Krieg zieht, gegen den Klimawandel. Auch mit der Ukraine verbindet ihn nichts, er war noch nicht einmal vorher hier, nur eine Ukrainerin hat er mal gedatet, wie er lachend erzählt. Warum er dann hier ist? Er war schon immer dagegen, wenn Stärkere Schwächere herumschubsen, sei es auf dem Schulhof oder eben hier. Das war’s, das soll der Grund für ihn sein, spontan in die Ukraine zu reisen, sich der internationalen Legion anzuschließen und sein Leben zu riskieren. Wir tauschen Nummern aus und wollen in Kontakt bleiben.
Viel mehr bleibt uns in Lemberg derzeit nicht zu tun. Zurück in die Unterkunft, Kaffee kochen, unsere noch fälligen Texte schreiben und die Entwicklungen checken. Mehrere Newsticker, Nachrichtenseiten und Livemaps werden von uns durchgesehen; ich versuche mit Kameraden in Kiew und anderen Orten Kontakt aufzunehmen und trage alle erdenklichen Informationen zusammen. Dann folgt der Kriegsrat.
Das Ergebnis: Me ne frego, wir versuchen so nah wie möglich an Kiew heranzukommen. Morgen geht es los.
Vielen Dank für die, meiner Ansicht nach, objektive Berichterstattung.
Weiterhin viel Erfolg und Gottes Segen auf euren Wegen.