01.03.2022, irgendwo zwischen Lemberg und Kiew
Nicht erst seit dem Ausbruch der Invasion stehe ich im Austausch mit ukrainischen Freunden und Kameraden, aber mit dem Beginn des Krieges hat sich die Natur dieses Kontakts natürlich verändert. Statt Smalltalk zu betreiben oder allgemeine politische Gespräche zu führen, geht es nun um ganz Konkretes: Wie ist die Lage? Was gibt es Neues? Wie ist die jeweilige Situation und vor allem: Wie geht es meinen Freunden? Der Großteil von ihnen ist in Kiew und damit in einem der Epizentren dieses Krieges.
Der Kontakt zu den meisten läuft nur schleppend, neben Verbindungsschwierigkeiten und anderen technischen Problemen kommt natürlich hinzu, dass die Betroffenen Besseres zu tun haben, als ständig auf das Telefon zu schauen. Dennoch gelingt mir ein mehr oder weniger regelmäßiger Kontakt zu fast allen. Antworten auf die Frage »Wie geht es dir?« werden lebendig beantwortet, so von Alex, der ein lachendes Selfie mit einem Raketenwerfer schickt.
Am häufigsten antwortet Stana, eine langjährige Freundin, die sich ebenfalls in Kiew befindet. Ihre tragische Familiengeschichte zeigt, wie komplex das Thema Identität sein kann. Sie stammt aus dem Donbass und befand sich dort bereits vor der Maidan-Revolution in ukrainischen rechten Gruppen. Als es auf dem Maidan los ging, kämpfte auch sie auf den Barrikaden in den Reihen des Rechten Sektors. Ihr Vater griff auch zur Waffe, jedoch auf Seiten der Separatisten im kurz darauf ausbrechenden Krieg. Während ihr damaliger Verlobter und zahlreiche Freunde und Kameraden auf ukrainischer Seite kämpften, standen ihr Vater und viele andere Freunde in den gegenüberliegenden Reihen.
In ihre Heimat kann sie nicht mehr zurück, sie ist bereits mehr als einmal nur knapp mit dem Leben davongekommen, als sie beim Ausbruch der Kämpfe die ukrainische Seite unterstützte. Ihr Name dürfte mit dem zahlreicherer weiterer ihrer Freunde und Kameraden auf einer Liste stehen. Das Entwenden genau solch einer ist im Übrigen einer der Gründe, wieso sie nicht mehr zu dem Ort ihrer Kindheit zurückkann.
Während also einige ihrer Freunde im Feuer der russischen Geschütze liegen, macht sie sich gleichzeitig auch Sorgen um die ukrainischen Granaten. Ihre geliebte Großmutter lebt schließlich noch immer auf separatistischer bzw. russischer Seite, als letzte Bewohnerin eines sechsstöckigen Hauses in einem der am heftigsten beschossenen Gebiete.
Von Stana konnte ich jedoch nicht nur viel über die Komplexität dieses Konflikts lernen, sondern auch manches mehr. Neben den für Aktivisten üblichen Gesprächen über politische Erfahrungen, Organisationen und Geschichte erklärte sie mir nicht weniger als eine Stunde lang die Bedeutung verschiedenster russischer Knasttätowierungen und andere Gewohnheiten der östlichen Halbwelt – verbunden mit zahlreichen amüsanten Geschichten. Wer die zierliche blonde, junge Frau sehen würde, käme nicht gerade auf die Idee, sie nach so etwas zu fragen, aber stille Wasser sind bekanntlich tief, und hinter den braunen Augen verbirgt sich ein ganzer Mariannengraben an Erlebnissen.
Sie ist derzeit mein bester Kontakt nach Kiew und aufgrund ihrer regelmäßigen Antworten kommt man dazu, mehr zu besprechen, als »nur« die Frage, wer noch alles am Leben ist und wie die Bombardierungen der letzten Nacht gewesen sind. Sie schickt Videos von den nächtlichen Einschlägen, berichtet über Versorgungsschwierigkeiten und wie sie die Lage einschätzt. Kiew verlassen will sie keinesfalls; sie will bleiben und kämpfen. Argumente dagegen sind zwecklos, für sie ist es eine Frage der Ehre. Sie hat schon einmal ihre Heimat verloren, sie kann sie nicht noch einmal verlieren, meint sie.
Dass sie sich derzeit nur humanitär nützlich machen kann, reicht ihr nicht, sie schlägt sich auf mir nicht bekannten Wegen aufs andere Flussufer durch, um daran etwas zu ändern. Ich bin gerade auf dem Weg in die Zentralukraine, diesen und andere Berichte auf einem Laptop auf meinen Schoß schreibend, als sie mir freudig mitteilt, morgen eine Waffe zu erhalten. Einerseits gut, dann kann sie sich verteidigen, andererseits schlecht, denn nun kann sie kämpfen. Dass sie es tun wird, daran habe ich keine Zweifel. Sorgen macht sie sich nicht um sich, sondern um mich und meinen Begleiter. Sie ist wahrlich nicht nur ein rebellisches, sondern auch ein gutes Herz.
Neben den ukrainischen melden sich auch immer mehr deutsche Kameraden. Fragen, wo und wie man helfen kann, Fragen, wie es uns beiden hier geht, Fragen nach Kontakten, Einschätzungen oder auch einfach nur, was unser »Plan« sei, jedenfalls viele Fragen …