28.05.2022, irgendwo in der Ukraine
Der Krieg in der Ukraine betrifft nicht nur einige Hunderttausend Soldaten und nicht nur die Zivilisten in den umkämpften Gebieten. Mehr noch als jeder bisherige Konflikt ist es ein Wettstreit der Bilder und »Informationen« – sowie über deren Deutungshoheit. Ständig stolpert man über Darstellungen gleicher Vorkommnisse, die von (pro-)russischen und (pro-)ukrainischen »Quellen« vollkommen anders eingeordnet werden. Jeder kann sich mittlerweile bequem mit seinem Smartphone selektiv informieren, die fünften Kolonnen sowohl Washingtons als auch Moskaus leisten das ihrige. Die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo dazwischen. Der Krieg in der Ukraine zeigt Schatten und Licht, menschliche Größe und Niedertracht.
Es gibt Ukrainer, die aus der ganzen Welt zurück in ihre Heimat fliegen, um sie zu verteidigen. Und es gibt jene, die genau diese verlassen. Oft wird darauf verwiesen, dass hauptsächlich Frauen und Kinder fliehen, und das entspricht tatsächlich (sicherlich auch aufgrund des Verbots für 18- bis 60-jährige Männer, das Land zu verlassen) der Wahrheit. Es gibt diese Momente, wo man eine junge Frau im Zug trifft, die es gerade erst aus Mariupol herausgeschafft hat und die nach Wochen des Lebens im Keller unter dauerhaftem Beschuss zum ersten Mal wieder Tageslicht und Bewegungsfreiheit erlebt. Es gibt sie, die Menschen, die alles verloren haben, die vor den Trümmern ihrer Existenz stehen und voller Dank für die Hilfe Europas sind. Und es gibt die Bilder von Nobelkarossen, die sich selbst ein gutverdienender Deutscher nicht leisten kann, mit ukrainischem Nummernschild in den Innenstädten von Warschau, Prag, Wien oder Berlin. Von »Flüchtlingen«, die lachend in Nobelboutiquen »shoppen«. Bilder, die jeder einseitig auf den jeweiligen Kanälen ansehen kann.
Und da sind die Szenen, die kaum ein Journalist zeigt, weil man sie nur außerhalb der Komfortzone beobachten kann: Den Anblick eines kleinen Mädchens auf einer Schaukel, nur wenige hundert Meter von der eigenen Stellung entfernt, während hier gerade Phosphorgranaten niedergehen. Alte Babuschkas, die ungerührt von Panzerkämpfen rund um ihr Dorf ihre Hühner versorgen. Kinder, die einem auf dem Weg zur Front zuwinken; eine Front, die nur wenige Kilometer von ihnen entfernt ist und von der sie nichts trennt – außer die Grenze aus Stahl und Fleisch, den Soldaten und ihrem Werkzeug.
Da sind die Widersprüche, die sich nicht vereinen lassen: Freiwillige ohne Ausbildung, die mit Turnschuhen im Schützengraben stehen, und die die Stellung gegen russische Panzer mit kaum mehr an Ausrüstung als einer jahrzehntealten Kalaschnikow und einigen Raketenwerfern halten, während junge Polizisten mit schusssicheren Westen und bester Bewaffnung gelangweilt den Verkehr in Lemberg regeln. Alte Männer und Frauen, die ihr Auto oder ihre letzten Ersparnisse der Armee geben, während andere »humanitäre Hilfe« unterschlagen und daraus ein großes Geschäft machen. Wer die Extreme sehen will, findet definitiv Beweise für beide Seiten, aber diese Extreme existieren parallel.
Weder ist die Ukraine eine Nation voller Helden noch ist es der Korruptionssumpf, den manche in ihr sehen wollen. Alles sind nur Momentaufnahmen, und manchmal prägen wenige Impressionen das gesamte Bild; sorgen dafür, dass alle Seiten nur das sehen, was sie sehen wollen. Es ist schlicht eine Kontinuität der Geschichte, dass die, die über ein Vermögen disponieren, immer ihren Weg in Sicherheit finden und dass die, die sich die Flucht nicht leisten können, im Krieg verbleiben. Gibt es hier ein »Richtig« und ein »Falsch«? Vielleicht ist es auch Unsinn, was ich am Anfang schrieb; vielleicht war es in allen Kriegen zu allen Zeiten so. Aber wer weiß das schon und vor allem: Wer will davon hören?
Manches hat sich in den letzten zwei Monaten verändert, auch darüber wird wenig gesprochen. Mittlerweile sind in Lemberg kaum mehr als vereinzelte Sandsäcke zu sehen, selbst die Zeltstadt vor dem Bahnhof wird kleiner. Eine Zeltstadt, wie es sie in Kiew übrigens nie gegeben hat, obwohl sie nicht nur von den Kiewer Bürgern selbst benötigt worden wäre, sondern auch von den unzähligen Flüchtlingen aus dem Donbass und Charkow. Doch hierhin verirrte sich bis vor kurzem kaum eine Hilfsorganisation, während entlang der polnisch-ukrainischen Grenze die Lager voll waren. Viele der üblichen »humanitären Helfer« bleiben – wie die Journalisten – hunderte Kilometer von der Front entfernt und einige trauen sich nicht einmal über die Grenze.
Aber auch hier gibt es Ausnahmen. Organisationen, die Zivilisten direkt von der Frontline unter Artilleriebeschuss evakuieren. Helfer, die wochenlang unbezahlten Urlaub nehmen und oft nicht einmal ihre Kosten herausbekommen. Journalisten, die ihr Leben riskieren, um die Wahrheit zu berichten. Es sind Ausnahmen, aber es gibt sie. Und sie alle, Soldaten, Journalisten und humanitäre Helfer werden wohl von ihren jeweiligen Freunden und Bekannten dieselben Fragen gestellt bekommen: wie es denn wirklich sei.
Die Wahrheit ist: In Städten wie Lemberg, Ushkograd und Czernowitz ist es derzeit vermutlich sicherer als in mancher westeuropäischen Großstadt. Gründe zu fliehen gibt es durchaus, aber nicht von dort, sondern aus Sewerodonezk, aus Charkow und aus vielen anderen Städten. Und es gibt auch Gründe für die Menschen dort weiter als nur ins Landesinnere zu fliehen. Viele Städte sind bereits überfüllt, und das Gesetz von Angebot und Nachfrage hat in westukrainischen Städten zur Folge, dass die Mieten deutlich gestiegen sind. Wer gerade seine Existenz verloren hat, kann sich nicht immer eine Wohnung leisten. Monatelanges Leben in völlig überfüllten Unterkünften mit teils mangelnder Versorgung und Betreuung ist genauso leicht zugemutet wie schwer auszuhalten. Wer aus der Hölle von Mariupol herauskam, kann es vielleicht nicht verkraften, in Kiew darauf zu warten, ob nicht doch wieder eine überraschende Offensive aus Weißrussland die Hauptstadt an den Rand der Umzingelung bringt.
Aber neben diesen echten Flüchtlingen gibt es auch jene, für die der Krieg die perfekte Gelegenheit ist, in den vermeintlich goldenen Westen zu kommen. Ich habe sie erlebt. Die, die keinen Grund haben zu fliehen und sich dennoch in den Schlangen ganz nach vorne drängeln. Die glauben, nun im materiellen Paradies zu sein und die die Helfer mit dem Tod bedrohen, wenn sie gesagt bekommen, wie viel (oder eher wenig) Geld sie erhalten. Die selbst bei Schönheitsoperationen fragen, ob sie diese als ukrainische Flüchtlinge kostenlos bekommen. Schattenseiten, die wohl der menschlichen Natur geschuldet sind, aber die genauso zur Realität gehören wie die europäische Solidarität.
Und zur Wahrheit gehört auch: So sehr ganz Europa jetzt der Ukraine hilft, so wenig hat sich die Ukraine um ihre eigenen Landsleute gekümmert, die 2014 vor dem Krieg im Donbass flohen. Vielmehr wurden viele von denen, die aus völlig zerstörten Städten nichts außer ihr Leben retten konnten, noch von denjenigen angefeindet, die nun ihre Gelegenheit zur Reise in den Westen kommen sahen. West und Ost ist nicht nur eine Spaltung in unseren deutschen Köpfen, es ist auch eine Spaltung der Ukraine. Viele meiner Freunde sind der Meinung, diese historisch bedingte Spaltung durch den Krieg nun endlich überwinden zu können. Ein Krieg, dessen Stahlgewitter das fragmentierte Volk zu einer geeinten Nation schmieden könnte – Hoffnung, Traum oder Wirklichkeit? Eine Frage, die die Zukunft beantworten wird.
Noch ist die Spaltung spürbar, noch kann man gegenseitige Vorbehalte wahrnehmen und manchen innerukrainischen Chauvinismus heraushören, gegen den die bekannte gegenseitige Abneigung zwischen Bayern und Preußen wie eine Liebeshochzeit wirkt. Die Westukraine, das ist für viele aus dem Osten der Hort der Nationalisten; die Ostukraine, das ist für viele im Westen eine Region voller verkappter Russlandfreunde. Aber auch hier gibt es die Gegenbeispiele: Städte wie Charkow, die als russlandfreundlichste Stadt der Ukraine galt, halten eisern Stand. Menschen in den besetzten Gebieten gehen gegen die Russen auf die Straße oder greifen sie direkt als Partisanen an. Der Osten der Ukraine zeigt, trotz aller Anfeindungen, dass er für seine ukrainische Identität kämpft.
Und viele im Westen der Ukraine helfen uneigennützig, spenden, nehmen Flüchtlinge auf und organisieren Transporte in die Städte der Ostukraine. Und nicht zuletzt stehen in den Schützengraben die Männer aus allen Teilen des Landes zusammen. Fragmentiert, ja. Aber der Traum von der Wiedergeburt einer jungen Nation eint sie. Grund zur Hoffnung dafür ist da – der gleichzeitig vom Westen gesteuerten, liberalistischen Planierraupe zum Trotz.