02.06.2022, Frontabschnitt in der Ukraine
Die Front, was ist das? Ein wechselnder Abschnitt auf einer Karte, meist nur wenige Kilometer tief, ein Ort voller Gefahren. Verstümmelung und Tod lauern dort – und doch ist es ein Sehnsuchtsort vieler. Es ist nicht so, dass ein Meter näher an der sagenumwobenen Hauptkampflinie gleichzeitig ein Meter weiter weg vom Frieden wäre. Es ist viel eher ein fließender Übergang. Je näher man kommt, umso deutlicher hört man die Schüsse der Artillerie, ein dumpfes Grollen, herübergetragen vom Wind. Mehr Flugzeuge am Himmel und mehr Militärfahrzeuge am Boden. Hubschrauber fliegen nur knapp über die Baumwipfel hinweg und auf der Straße kommen uns Transporter mit Schützenpanzern entgegen. In den Checkpoints stehen nicht mehr einzelne alte Männer, sondern immer größere Gruppen von Soldaten, die teils regelrechte Bunker- und Grabensysteme rund um ihre Straßensperren gebaut haben. Noch ist der Krieg dutzende Kilometer entfernt, aber man weiß, er ist da.
Doch mit jedem Kilometer wird es schwieriger, Worte zu finden; Worte für das, was da ist. Wieder einmal lebe ich in einem Sammelraum mit rund einem Dutzend internationaler Freiwilliger. Jeder von uns hat für sich kaum mehr als zwei Quadratmeter auf einem harten Betonboden zur Verfügung, ausgekleidet mit den wenigen Zentimetern Schaumstoff einer Isomatte. Die Fenster sind abgeklebt, die Hälfte der Lampen funktioniert nicht und ein mitgebrachter Wasserkocher ist der einzige Luxus, den wir besitzen.
Einen großen Teil unserer freien Zeit verbringen wir hier, selbst bei Tag im künstlichen Licht alter Leuchtstoffröhren. An das Donnern der tieffliegenden Jets hat man sich längst gewöhnt, selbst bei strenger Warnung vor möglichen Luftschlägen schenkt man ihnen kaum noch Beachtung. Aber es gibt Ausnahmen. Dann etwa, wenn einer der Jets besonders tief und besonders nah über uns hinwegfliegt, weitaus tiefer und näher als gewöhnlich. Dann verstummen auch die Veteranen. Es sind drei, vier, fünf Sekunden vielleicht, in denen man auf einen Einschlag einer Bombe wartet – oder eben die Gewissheit, dass es doch wieder nur ein Überflug war. Keiner, der aufsteht und versucht, sich in »Sicherheit« zu bringen oder noch eine schusssichere Weste überzuwerfen; denn im Fall der Fälle ist es jetzt ohnehin zu spät. Eine besondere Atmosphäre durchzieht in diesen Sekunden den Raum. Wenn der Jet-Lärm verhallt ist, beginnen die Gespräche wieder als wäre nichts gewesen, und nur ein ganz eigener Ausdruck in den Gesichtern erinnert an die vergangenen Sekunden. Mancher lacht und grinst, anderen verhärtet der Ernst die Gesichtszüge.
Ich weiß nichts über Nahtoderfahrungen, aber bereits die Ungewissheit dieser wenigen Sekunden beschert mir erhellende Einblicke. Der eine denkt instinktiv an seine Frau oder die unerfüllte Liebe, an die Kinder oder bestimmte Familienmitglieder; dem einen schießt es vielleicht nur durch den Kopf, dass das jetzt das Ende sein könnte, und er sieht vor dem geistigen Auge bereits die trennende Wand zum Jenseits in tausend Stücke zerbersten. Man kann versuchen, diese Stimmung zu beschreiben, aber die Worte versagen hier. Manches lässt sich nicht fassen, so wie Erlebnisse nicht in Fotografien gepresst werden können. So etwa der Blick in den von Sternen erfüllten Himmel, an einem Ort, nicht weit entfernt vom Donbass. Selten habe ich einen so klaren Himmel mit so vielen Sternen gesehen. Und zu den Gestirnen gesellen sich die Lichter der Drohnen und Flugzeuge, die kreuz und quer durch die Nacht ziehen, wie sich bewegende Sterne am Firmament. Nur durch ihre Geschwindigkeit sind sie überhaupt von den Himmelskörpern zu unterscheiden – ohne sie wären sie nur Lichter unter vielen. So aber ergeben sie ein einzigartiges Bild, und angesichts des Sternenhimmels musste ich an das Lied der deutschen Fallschirmjäger auf Kreta denken: »Ihr Sternlein funkelt, vom Himmel in die Nacht, grüßt mir die Heimat, grüßt mir mein Mägdelein aus blutiger Schlacht«.
Doch abseits dieser außergewöhnlichen Situationen ist da natürlich der Alltag. Drei tägliche Mahlzeiten, zwei Mal Antreten, dazwischen Training und Freizeit. Manche der Freiwilligen gehen in den nahen Supermarkt, kaufen Energydrinks und Chips. An solchen Banalitäten ändert sich nichts, ganz gleich, ob einer Tarnbekleidung trägt oder ob eine Kalaschnikow im Kofferraum liegt. Selbst Drohnen und Luftalarme werden irgendwann zu einer langweiligen Routine; das Postenstehen ist es bereits von Beginn an. Nur das Kommen und Gehen, das Verabschieden der Kameraden an die Front oder das Begrüßen der Rückkehrer bilden kleine Ausnahmen. Viele warten darauf, endlich an diesen mythischen Ort, die Front, zu kommen, und schlagen die Zeit bis dahin tot, warten und warten. YouTube, Netflix, Musik, einzelne Bücher und vor allem eine Menge Gespräche überbrücken die Leere.
Mit einem der internationalen Freiwilligen mit einem Abschluss in Philosophie rede ich über Spengler und Schmitt. Eine willkommene Abwechslung zu den üblichen Themen wie »Kann man eine RPG-7 noch effektiv gegen dieses und jenes Fahrzeugmodell einsetzen oder sollte man dann schon zu einer NLAW greifen?«. Man findet hier alles, was man woanders auch findet, es ist keine neue Welt, die einen direkt hinter der Front erwartet. Aber für viele ist es eine notwendige Durchgangsstation zur Hauptkampflinie, dorthin, wo es allen Gefahren zum Trotz so viele hinzieht.