07.06.2022, irgendwo in der Ukraine
Die umfassende Technisierung unseres Lebens macht auch vor dem Krieg in der Ukraine nicht halt. Die Waffen in diesem Krieg sind oft jahrzehntealt, Internet und Mobilfunk durchziehen das Land aber gleichzeitig mit einem feinen Netz und scheren sich dabei nicht um Frontverläufe. Jeder kann es anhand von Drohnen und anderen modernen Waffensystemen sehen, jedoch wird vor allem das omnipräsente Smartphone zu einer nicht zu unterschätzenden Waffe. Die einen nutzen Apps für den Luftalarm, die anderen steuern Drohnen darüber oder markieren feindliche Stellungen damit. »Actionkameras« (»GoPros«) und die Linsen der unzähligen Handys halten den Krieg aus tausenden Winkeln fest; »Powerbanks« laden nicht nur die Akkus der Handys, sondern auch die der Nachtsichtgeräte und Wärmebildkameras. Mancher Soldat durchsucht Amazon und andere Onlineversandhändler aus dem Schützengraben heraus nach neuer Ausrüstung, andere sehen ihre oft weit entfernten Familien wenigstens in Form von Videoanrufen.
Die moderne Technik ist überall und spätestens dann, wenn sich in Luftschutzkellern Menschen um einen kleinen Bildschirm sammeln, um zu »netflixen«, wird es einem in aller Deutlichkeit klar. Fehlende Kenntnisse über Waffensysteme werden durch PDF-Anleitungen, innerhalb weniger Sekunden heruntergeladen, kompensiert, und Details über feindliche Fahrzeuge werden auf Wikipedia nachgelesen. Wo der Soldat früher wochenlang nicht wusste, wie die Front jenseits der eigenen Stellung verläuft, verraten ihm nun Twitter, Instagram und Live-Karten im Internet nahezu in Echtzeit die Lage. Konvois fahren per Google Maps zu ihren Positionen an der Front, die teils wiederum eigenes WLAN haben. Es passiert nicht selten, dass Soldaten vom Nachbar-Zug in den eigenen Unterstand kommen, um nach dem WLAN-Passwort zu fragen. Ich meine, am Anfang steht nicht einmal die Frage, ob das mit wenigen Holzbrettern verstärkte Erdloch überhaupt WLAN hat – denn dessen Existenz wird anscheinend wie selbstverständlich vorausgesetzt.
Neben dem taktischen Einsatz dienen die Telefone aber vor allem für das »Posten« von Bildern in den sozialen Netzwerken. Eine der Lehren dieses Krieges ist: Man kann vielleicht der Artillerie entkommen, nicht aber den Kameras. Die von vielen Soldaten genutzten Sturmhauben dürften auch auf die fast rund um die Uhr aufgenommenen Videos und Bilder in den Gräben und Stellungen zurückzuführen sein. Nicht wenige verraten ihre Stellungen damit, leiten feindlichen Beschuss direkt auf die eigene Position oder machen es gegnerischen Systemen leicht, die Kameraden zu orten; aber alle Befehle und Sicherheitsunterweisungen konnten bislang nichts an der Flut von Selfies und Instagram-Stories ändern.
Es scheint dabei ein kausales Gesetz zu geben: Je größer die Waffe, desto länger die Warteschlange, um Bilder mit ihr zu schießen. Dass ein Großteil der Personen niemals mit ihr schießen wird, spielt keine Rolle, genauso wie die Wahrheit bei der Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken keine Rolle spielt. »Billigen Ruhm abstauben«, so nannten einige der internationalen Freiwilligen, mit denen ich unterwegs bin, die Vorgehensweise mancher sowohl internationaler als auch ukrainischer »Soldaten«, die hunderte Kilometer hinter der Front bleiben und sich dennoch täglich als mutige Krieger inszenieren. Übrigens nicht nur auf den bekannten Netzwerken wie Instagram, sondern auch auf Dating-Apps wie Tinder.
Einsame Spitze bleibt der Typ, ein Franzose mit unklarer Vergangenheit, der erfolgreich viel Geld über soziale Netzwerke sammelte, mit dem er sich in Kiew ein schönes Leben machte und es deswegen zu zweifelhaftem Ruhm in den Reihen der internationalen Freiwilligen brachte. Diese begannen, eigene Recherchen anzustellen – und die Diskrepanz zwischen seiner Selbstdarstellung und der Realität war so groß, dass das ganze Lügengebilde sehr bald in sich zusammenfiel und sogar nach eigenen Aussagen des Blenders ukrainische Exekutivorgane auf den Plan rief. Eine andere erwähnenswerte Kuriosität stellen wohl rund ein Dutzend ukrainischer Frauen dar, die über die Plattform Onlyfans mit eigens produzierten Nacktbildern Spenden für die ukrainische Armee sammelten.
Doch abseits von Instagram-Stories und Nacktbildern auf Onlyfans stellt die Technik gerade für die internationalen Freiwilligen eine große Hilfe dar; der Google-Übersetzer dürfte für viele von uns zu einem der engsten Freunde geworden sein. Ganze Ausbildungseinheiten wurden von internationalen Kämpfern mit der Übersetzerfunktion bestritten. Eine Option, die Gefahren auch jenseits von falsch verstandenen Anweisungen birgt. Einmal kam ein neuer Freiwilliger aus Westeuropa zur Einheit, einer der interessantesten Charaktere der an außergewöhnlichen Personen nicht armen Gruppe. Wie so viele sprach er Englisch zwar fließend, seine Muttersprache war es aber nicht. Nach einigen Stunden des Austauschs über die politische Ausrichtung, militärischen Hintergrund und Situation im jeweiligen Land kam er schließlich auf seinen Aufenthalt im Gefängnis zu sprechen. Da er den korrekten Ausdruck für seine Tat nicht kannte, hatte er, wie so viele, Google befragt und erklärte als Grund für seine Zeit hinter Gitterstäben: »I raped people«.
Wir alle stellen in diesem Moment unsere Arbeit ein und drehten uns zu ihm um, plötzlich war es totenstill. In den Blicken aller konnte ich dasselbe lesen: Schade, ich mochte ihn, aber das wird mit dir hier nicht gut ausgehen. Aber das Missverständnis klärte sich schnell auf; so blöd konnte ja auch niemand sein und sorglos rumerzählen, er sei ein Vergewaltiger. Nach einigen sehr eindringlichen und betont langsamen und exakten Fragen stellte sich heraus, dass er in einigen Banken ohne deren Einwilligung Geld »abgehoben« hatte, was man vor Jahrzehnten tatsächlich mit »raped« hätte übersetzen konnte. Was nun eine lustige Anekdote ist, hätte auch tragisch enden können, wenn der Übersetzungsfehler nicht aufgedeckt worden wäre.