Ein Attentat auf Donald Trump, die Verzichtserklärung von Joe Biden, die Nominierung von J. D. Vance als Vizepräsidentschaftskandidat der Republikaner – in den Vereinigten Staaten von Amerika passiert gerade viel. Mitunter führt diese »Bewegung« dazu, dass man auch in Deutschland wieder sein Interesse an US-Politik entdeckt, nicht ohne seine Hoffnungen an die eine oder andere unerwartete Wendung zu knüpfen. Jungeuropa-Autor Nils Wegner (Neoreaktion und Dunkle Aufklärung) ist bestimmt kein Freund hoffnungmachender Parolen, aber ein umso besserer Kenner der US-Politik im Allgemeinen und der amerikanischen Rechten im Besonderen. Wir haben ihn zu den letzten Vorkommnissen in Nordamerika befragt.
Man kann der US-Politik nicht nachsagen, sie sei nicht unterhaltsam. Auf Präsident Donald Trump folgte Präsident Joe Biden, dessen geistige Umnachtung nun auch seinen vorzeitigen Rückzug nach sich zieht. Lieber Nils, wer wird Biden als demokratischer Präsidentschaftskandidat beerben und wie lustig könnte diese sogenannte Alternative werden?
»Unterhaltsam« ist tatsächlich so etwas wie das Leitmotiv hier: Innerhalb von nur wenig mehr als zwei Wochen haben wir den vollumfänglichen Untergang Bidens bei der doch komplett zu seinen Gunsten eingerichteten »Debatte« gegen Trump erlebt, dann die panischen Schadensbegrenzungsversuche der liberalen Medien weltweit (!) und schließlich den bizarren Anschlag in Butler, Pennsylvania, der das bislang ikonischste Pressefoto der 2020er abgeworfen und Trump innerhalb der Republikanischen Partei praktisch unanfechtbar gemacht hat. Wenn irgendjemand noch immer nicht begriffen hat, dass der öffentliche Teil der US-Politik ein einziges Spektakel ist, dann ist ihm wirklich nicht mehr zu helfen.
Nach Bidens bizarrem »Verzicht« auf die neuerliche Kandidatur per Tweet, der die obige Reihe von »Events« nahtlos fortsetzt, hat sich die Weltöffentlichkeit nun bereits auf Kamala Harris als Nachfolgerin eingestellt. Das war praktisch unausweichlich, bietet sie doch alle für Progressive scheinbar essenziellen Kriterien. Vor allem verkörpert sie in sich selbst die Rainbow coalition der multiplen Minderheiten, die »repräsentiert« werden wollen: Sie ist eine Frau, sie ist die Tochter einer Tamilin und eines Jamaikaners, sie ist Scheidungskind … Außerdem ist sie dafür bekannt, wenige »Überzeugungen« zu haben und ihr Fähnchen meist in den Wind zu drehen, was sie zu formbarer Masse in den Händen der wichtigsten Finanziers der Demokraten macht. Es läuft also letztlich alles auf Harris als Präsidentschaftskandidatin der Demokraten hinaus, aber mit Sicherheit wissen werden wir es erst nach deren Parteitag im August wissen. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass offenbar niemand sich die Mühe gemacht hat, rechtzeitig einen »Plan B« für einen möglichen Ausfall Bidens vorzubereiten.
Dann ist der Ausfall Bidens wohl eher als Glücksfall für die Demokraten und nicht als Niederlage zu werten?
Nun, was soll daran schon eine »Niederlage« sein? Biden geht auf seinen 82. Geburtstag zu; er ist der älteste amtierende Präsident in der Geschichte der USA. Es war absehbar, dass er über kurz oder lang ausfallen würde, und tatsächlich haben viele Beobachter dies bereits für seine erste – und nun wohl auch einzige – Amtszeit erwartet. Dann hätte Vizepräsidentin Harris geschmeidig übernehmen und das Staatsschiff auf dem gewünschten Kurs weiter- oder notfalls in diesen zurücklenken können. Für derlei Manöver gibt es mit John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson ein historisches Paradebeispiel.
Dass sich ausnahmslos alle etablierten Medien so lange darauf versteift haben, die offensichtliche neurologische und mentale Zerrüttung Bidens zu leugnen und als »rechte« Fake News hinzustellen, nur um sich nach besagter Debatte, als endgültig alles verloren war, um 180 Grad zu wenden und den sofortigen Rückzug des amtierenden Präsidenten aus dem Wahlkampf zu verlangen – das stellt einerseits einen neuen Tiefpunkt der sogenannten Berichterstattung dar. Andererseits bildet es auch einen Höhepunkt der kognitiven Dissonanz, war doch der geistige Abbau Bidens schon vor dessen erster Präsidentschaftskandidatur deutlich erkennbar. Wer diesen erst infolge der Debatte mit Trump festgestellt haben will, der ist entweder mit ideologischer Blindheit geschlagen oder schlicht ein Lügner.
Der Zeitpunkt dieses Kandidaturverzichtes ist nun allerdings ziemlich ungünstig für die Demokraten, die sich gewiss schon auf einen wenig aufregenden Parteitag nach vorgefertigten Richtlinien eingestellt hatten. Für einen echten Binnenwahlkampf mit verschiedenen Bewerbern um die Präsidentschaftskandidatur ist es nun längst zu spät; ein solcher war im vergangenen Jahr von der Parteiführung der Demokraten planmäßig unterdrückt worden (weshalb Bobby Kennedy jr. nun als parteiloser Kandidat antritt). So oder so wäre es auf Kamala Harris hinausgelaufen, nicht zuletzt aus den oben genannten Gründen, doch der Wechsel vom einen »voraussichtlichen Kandidaten« zum anderen hätte deutlich weniger holprig verlaufen können.
Donald Trump ist nur unwesentlich jünger – trotzdem scheint er fest im Sattel (der Republikaner) zu sitzen. Was sagt das über die Republikaner aus?
Das Durchschnittsalter amerikanischer Spitzenpolitiker ist schon seit langer Zeit ein Füllhorn bösartiger, aber berechtigter Scherze. Denk etwa an die vor bald einem Jahr mit 90 im Amt (!) verstorbene Senatorin Dianne Feinstein, die mindestens in ihren letzten beiden Jahren geistig völlig weggetreten war, aber nichtsdestoweniger wichtige Ausschussfunktionen »wahrgenommen« hat und von ihrer hochrangigen Parteifreundin Nancy Pelosi aggressiv gegen jeden Verdacht der Demenz verteidigt wurde – während sie zur gleichen Zeit in den Räumlichkeiten des Capitol in Fernsehkameras sagte, sie habe keine Ahnung, wo sie gerade sei und warum. Das Berufspolitikertum führt zwangsläufig in die Greisenherrschaft, und die USA sind auch in dieser bestürzenden Tendenz lediglich das krasseste Beispiel für ein allgemeines westlich-liberales Problem.
Was nun das Alter Donald Trumps angeht – er hat vor mittlerweile 40 Jahren begonnen, sich zumindest öffentlichkeitswirksam für nationale und internationale Politik zu interessieren, und dabei eine bemerkenswerte Flexibilität in so gut wie allen Ansichten bewiesen, ebenso in seinen Parteineigungen und seinem Spendenverhalten. Dass er letztlich primär den Republikanern zuneigte und mit diesen assoziiert wird, dürfte vor allem mit deren wirtschaftlichem Kurs zu Zeiten Ronald Reagans (und dessen Erbe) zusammenhängen. Er hätte schon deutlich früher und jünger eine bedeutende politische Position erlangen – um nicht zu sagen: erwerben – können, nur hat ihn tatsächlich bis Mitte 2015 niemand richtig ernst genommen, schon gar nicht das Establishment der Republikanischen Partei, das ursprünglich mehrheitlich auf den Mitbewerber Ted Cruz setzte. Und das kann man den damaligen Politprofis nicht einmal zum Vorwurf machen: Vergiss nicht, dass zahlreichen Berichten zufolge sogar Trump und dessen Mitarbeiterstab selbst von der gewonnenen Präsidentschaftswahl kalt erwischt worden sein sollen.
Also kein »Plan«, kein 4-D-Schach von Trumps Seite, auch dieses Mal nicht?
Das wage ich stark zu bezweifeln. Wenn Trumps erste Amtszeit als Präsident etwas gezeigt hat, dann doch wohl, dass er auf diese erstens nicht vorbereitet war (siehe etwa seine ständigen Personalrochaden, die keinerlei durchdachte Strategie erkennen ließen, sondern eher abhängig von der Tagesform und den »Ratschlägen« seiner Tochter Ivanka und ihres Ehemannes zu sein schienen) und zweitens auf der Funktionärs- und Beamtenebene massiv behindert und teilweise regelrecht sabotiert werden konnte (was den Wert eines »Plans« insgesamt infrage stellt).
Ich habe es schon in mehreren Lagebesprechung-Podcasts sowie anderswo erwähnt und kann mich nur wiederholen: Politik im Sinne von real wahrnehmbaren Entscheidungen und Maßnahmen wird in den USA vor allem auf der Ebene der politischen »Manager« gemacht – der Stabsmitarbeiter, der Lobbyisten, der Ausschussangehörigen etc. Dieser Apparat, der in den letzten 90 Jahren seit dem New Deal unter Roosevelt ins Monströse angewachsen ist, ist eben jener Blob oder – in Trump-Diktion – Swamp, gegen den schon so viele vergeblich angeritten sind. Das hat der ehemalige Trotzkist und spätere Vordenker des Conservative movement James Burnham schon sehr früh angemahnt (The Managerial Revolution, 1941); sein Epigone Samuel Francis hat diese Lehre trefflich ins 21. Jahrhundert übertragen (Leviathan and Its Enemies, 2016). Und mittlerweile ist es der polittheoretische Exot Curtis Yarvin alias »Mencius Moldbug«, der die minarchische Parole »R.A.G.E.« für »Retire all government employees« ausgegeben hat. Wer einen echten Kurswechsel erreichen möchte, der kann nicht nur das Spitzenpersonal austauschen, sondern muss dem Mittelbau zu Leibe rücken – und bislang ist nicht der Eindruck entstanden, dass Donald Trump dazu willens oder in der Lage wäre.
Einer, vor dem nun neuerdings gewarnt wird, ist J. D. Vance. Bringt er Veränderung in die von dir beschriebene Dynamik? Wofür steht der Mann, den der Spiegel unlängst als personifizierte »nächste MAGA-Generation« bezeichnete?
Zumindest steht er dafür, deutsche Spitzenpolitiker auf dem absteigenden Ast »zu Tränen zu rühren«, seitdem sich Olaf Scholz in der vergangenen Woche dazu bekannt hat, Hillbilly Elegy begeistert gelesen zu haben und es auch weiterhin für lesenswert zu halten. Und was macht jetzt Ullstein, der bisherige Verlag der deutschsprachigen Übersetzung des Buches? Verlängert den Lizenzvertrag nicht und enthält somit das vergriffene Buch dem deutschen Leser vor, der sich erst jetzt für Vance zu interessieren begonnen hat! Die Begründung ist wortwörtlich, dass der Autor in Ordnung gewesen sei, solange er sich 2016/17 aktiv gegen Trump positionierte; nun, da er an Trumps Seite steht, sei er nicht mehr in Ordnung, wobei sich am Inhalt des Bestsellers in der Zwischenzeit natürlich kein Iota geändert hat. Genau das lächerliche Kleinkinderverhalten, dass man von derartigen Verlagen mit ihren problembrillenbewehrten Kultursensibilitätsbeauftragt*Innen leider schon gewohnt ist.
Bevor nun aber Vorschläge kommen, dass ja Jungeuropa das Buch übernehmen könnte: Eine Offenbarung ist Hillbilly Elegy nun wirklich nicht. Ich persönlich fand den stellenweise etwas aufdringlich selbstironischen Ton eher unangenehm. Wer von Land und Leuten seiner Jugend erzählen möchte, der kann und sollte das tun, ohne ständig den Leser daran zu erinnern, dass er – der Erzähler – genau weiß, dass der Leser ihn wahrscheinlich als Hinterwäldler belächeln wird. Ohne die Heerscharen von Haltungsjournalisten und sonstigen Eierköpfen, die in dem Buch ein Psycho- und Soziogramm des Rust Belt erkennen und den tieferen Grund für den populistischen Erfolg Donald Trumps herauslesen wollten, wäre Hillbilly Elegy keinesfalls ein derartiges Phänomen geworden. Wäre es 2014 statt 2016 erschienen, krähte heute kein Hahn danach. Ein Ersatzverlag für die deutschsprachige Ausgabe hat sich im Übrigen, soweit ich weiß, ohnehin schon gefunden.
Und Vance selbst? Abgesehen von seiner Herkunft aus der weißen Unterschicht und der damit sowie mit seinem Militärdienst als Kriegsberichter/Presseunteroffizier bei der Marineinfanterie verbundenen scheinbaren Authentizität ist das größte Pfund, mit dem er wuchern kann, sein für die US-Politik ziemlich junges Alter von gerade 40 Jahren. Dieses Image als »junger Wilder«, der antritt, um einen verknöcherten Politikbetrieb aufzumischen, kultiviert er seit einiger Zeit auch ganz bewusst, indem er beispielsweise mit Vollbart auftritt. Seine Wähler scheinen es ihm zu danken. Die wissen wahrscheinlich nicht einmal, dass Vance als Student noch für die Website des Erz-Neocon David Frum – Erfinder der Parole von der »Achse des Bösen« – gearbeitet und seine ersten politischen Sporen also ausgerechnet in der am weitesten verwesten Fraktion der US-Rechten verdient hat.
Der unbestreitbar wichtigste Hintergrund, den man bei Vance stets mitdenken muss, ist aber dessen Verbindung zu Peter Thiel. Thiel finanziert seit mittlerweile mindestens 15 Jahren mal ganz offen, mal verdeckt zahllose Politiker, Medienschaffende und Aktivisten, die ihm hoffnungsvoll und/oder inhaltlich interessant erscheinen – das ist schon ein eigenes Mem geworden, indem in Podcasts und bei Xitter öfters die rhetorische Frage gestellt wird, wo die »Thiel bucks« bleiben würden. J. D. Vance ist aber nicht irgendein weiterer Protegé Thiels – er war ein knappes Jahr lang Geschäftsführer einer Investmentfirma der Thiel-Gruppe und dürfte also, mit Carl Schmitt gesagt, unmittelbaren »Zugang zum Machthaber« haben. Ebenso wie übrigens auch Blake Masters, der Koautor von Thiels Buch Zero to One, der zur genau gleichen Zeit wie Vance Ende 2016 begann, in den republikanischen Parteibetrieb hineinzudrängen. Masters hat es mit dem Image als »junger Wilder« allerdings ein wenig übertrieben, etwa indem er öffentlich Ted Kaczynski als nach wie vor lesenswerten subversiven Denker empfohlen hat – das ist zwar objektiv korrekt, kommt allerdings beim Durchschnittsamerikaner nicht so gut an, weshalb Masters in den Zwischenwahlen 2022 die Unterstützung wichtiger Republikanerkreise versagt blieb.
Du hast es bereits angesprochen: Unter deutschen Rechten stellt man sich die Frage, was denn nun genau so »schlecht« an J. D. Vance sein soll. Wo ist das Problem? Oder ist die Frage bedeutungslos, weil der Vizepräsident im Normalfall kaum eine Rolle spielt?
Diese Frage lässt sich ganz kurz und bündig beantworten: Letzteres ist der Fall! Abgesehen davon, dass er bei Stimmengleichheit im Senat das Zünglein an der Waage spielen darf, hat der US-Vizepräsident eine rein repräsentative Funktion – solange der amtierende Präsident nicht ausfällt oder zurücktritt.
Zur wichtigen Frage des Thiel-Klüngels ist trotzdem noch einiges zu sagen, auch und gerade weil so viele deutsche und europäische Rechte ihre Hoffnungen neben vorgeblichen Nationalpopulisten wie Steve Bannon auch Protagonisten der selbst ernannten »PayPal-Mafia« anhängen, derzeit insbesondere Elon Musk, der in »unseren Kreisen« – was auch immer das bedeuten mag – beharrlich als eine Art Freiheitsheld zelebriert wird.
Vieles dazu habe ich in meinem Büchlein zur Neoreaction dargelegt. Deshalb hier nur stark kondensiert: Peter Thiel gilt vielen als das, was wir hierzulande einen Kulturkonservativen nennen würden – er ist nämlich homosexuell. Das ist nur ein halber Scherz: Thiel hat auf dem Republikanischen Parteitag 2016 für Furore gesorgt, indem er ans Rednerpult trat und rief: »Ich bin stolz darauf, schwul zu sein. Ich bin stolz darauf, Republikaner zu sein. Und vor allem bin ich stolz darauf, Amerikaner zu sein.« Damit hat er sein Verständnis von »MAGA« und »America first« umrissen, und dazu muss man sich als Fan von Thiel oder dessen Günstlingen positionieren. (Wobei dazu zu sagen ist, dass Thiel seinen »Konservatismus« erst seit der zweiten Amtszeit Obamas gefunden hat, als unter den damaligen US-Libertären, zu denen er die längste Zeit gehörte, Auseinandersetzungen über das Verhältnis zwischen »Freiheit« und »Demokratie« aufkamen.)
Peter Thiel hat – für einen erfolgreichen Risikokapitalgeber wohl unerlässlich – nicht allzu viele Prinzipien, aber umso mehr Interessen. Und wenn seine Vertrauten nach einem fast zehnjährigen Marsch durch die republikanischen Institutionen nun auf hohe Staatsämter vorrücken können, wenn auch vorerst nur repräsentative, dann wird er das auf die eine oder andere Weise sicherlich zu nutzen wissen, und sei es nur für ein paar Hinterzimmerdeals. Besonders interessant ist in diesem Kontext, dass er beim Wettbewerb um die republikanische Präsidentschaftskandidatur dieses Mal keinen Bewerber offen unterstützt hat, obwohl unter diesen mit Vivek Ramaswamy ein Mann aus seinem erweiterten Umfeld antrat. An seine Stelle als graue Spendereminenz scheinen allmählich die IT-Investoren Marc Andreessen und Ben Horowitz zu treten, die wiederum eine gemeinsame Vorgeschichte mit dem oben erwähnten Curtis Yarvin haben und noch 2016 vehemente Trump-Gegner waren – genau wie J. D. Vance.
Warum Thiel nach außen hin auf Abstand gegangen ist? Der Schlüssel liegt in seinem eben zitierten Spruch auf der RNC 2016, denn meist wird von »unseren« Leuten übersehen oder weggelassen, was Thiel damals gleich im nächsten Satz gesagt hat: »Ich stimme nicht mit jedem Satz in unserem Wahlprogramm überein, aber unsinnige Kulturkämpfe lenken uns nur von unseren wirtschaftlichen Problemen ab, und außer Donald Trump spricht niemand in diesem Wahlkampf dieses Thema an.«
Es ist alles da, ganz offen, man muss es nur sehen wollen. Thiel – und, das unterstelle ich einmal ganz frech, auch seinen Verbindungsleuten im Apparat der GOP – geht es im Endeffekt um die Freiheit der Bilanzen, Deregulierungen und Handelswege. Die Freiheit der Meinung, der Rede und der Vereinigung (wobei zumindest Letztere seit dem Civil Rights Act von 1964 in den USA ohnehin nur noch eine hohle Phrase ist) sind dabei nettes Beiwerk, aber dürfen nicht zur Ablenkung führen. Die Republikaner haben in den letzten zwei Jahren vor allem als Anti-»Woke«-Partei von sich reden gemacht, besonders die Nachwuchspolitiker, und das geht Peter Thiel letztlich doch gegen den Strich. Reformen können nett sein, aber eine »Kulturrevolution von rechts« wird es mit ihm nicht geben. Über etliche seiner Firmen, insbesondere Palantir (ein großes, gruseliges Thema für sich), ist er eng verbunden mit dem militärisch-industriellen Komplex, und er wird keinesfalls die Hand beißen, die ihm die Taschen füllt. Das gilt übrigens genauso für Elon Musk.
Warum siehst du Thiel so kritisch? Immerhin investiert u. a. in Rumble, eine Videoplattform, die mit Zensurfreiheit wirbt und YouTube den Kampf ansagen will.
Ich sehe nicht Thiel selbst kritisch. Ich erkenne an, dass er seine Interessen hat und diesen nachgeht. Was ich sehr wohl kritisch sehe, ist der Hang auf der Rechten, verzweifelt auf der Suche nach starken (und das heißt vor allem: kapitalstarken und medienwirksamen) »Freunden« zu sein.
Peter Thiels Vermögen, das er in »subversive« Charaktere und Medienprojekte investiert oder zumindest lange investiert hat, stammt zu einem großen Teil aus Unternehmen, die führend im Bereich zum Beispiel der Gesichtserkennungstechnologie und der qualitativen Analyse riesiger Datenmengen sind. Um es noch deutlicher zu machen: Er profitiert von dem jetzigen Vorgehen von Militär und Exekutivbehörden, insbesondere im Bereich der Onlineüberwachung, wogegen sich Rechte doch eigentlich mit Händen und Füßen wehren, weil momentan sie bzw. »wir« die Leidtragenden dieser technologischen »Errungenschaften« sind. Als CEO von Palantir hat er mit Alex Karp einen erklärten Antifaschisten eingesetzt!
Es gibt eine Strömung der US-Rechten, die einen fatalistischen Blick auf all das pflegt und sinngemäß sagt: »Künstliche Intelligenz, Totalüberwachung, gläserner User usw. kommt sowieso – wir sollten wenigstens diejenigen Profiteure daran unterstützen, die uns am wenigsten feindselig gegenüberstehen.« Dem werden hierzulande sicher einige Thiel- und Musk-Fans zustimmen und es als »machiavellistisch«, »neoreaktionär« oder dergleichen schönreden. Aber das ist eine Sklavenmentalität, und ich weigere mich, in diesen Chor einzustimmen.
Peter Thiels Interessen sind nicht meine Interessen. Elon Musks Interessen sind auch nicht meine Interessen. Und wenn der durchschnittliche Rechte einmal all die Benebelungen von »Technooptimismus« bis hin zu »Sozialdarwinismus« beiseite schiebt und in seiner Selbstverortung über markige Sprüche aus dem Grundschulpoesiealbum à la »Wenn ich groß bin, möchte ich auch CEO werden« hinausgelangt, wird er einsehen, dass auch seine Interessen nichts mit den Machenschaften dieser Milliardäre gemein haben – nebulöse und völlig beliebige Vorstellungen von »Freiheit« hin oder her.
In deinem Buch Neoreaktion und Dunkle Aufklärung schreibst du über die Ideologie dieser Silicon-Valley-Clique, also über die Welt von Musk und Thiel. Wie passt das denn zusammen? Einerseits libertär, andererseits profitieren sie von der Onlineregulierung des Staates. Einerseits »reaktionär«, andererseits mit ihren Projekten nahe dran am Transhumanismus.
Vom Doyen des US-Neokonservatismus Irving Kristol stammt das beliebte sinngemäße Zitat, ein Konservativer sei ein Liberaler, der von der Wirklichkeit überfallen worden sei. In diesem Sinne könnte man sagen: Ein »Neoreaktionär« ist ein Libertärer, der erkannt hat, dass die Menschen ohne Anreize von außen bzw. von oben zu nichts zu gebrauchen sind.
Diese Leute kommen oft aus der IT-Branche, kennen also den Wert von Ordnung (zumindest in ihrer Arbeit; das persönliche Erscheinungsbild steht manches Mal auf einem anderen Blatt geschrieben). Sie wollen Deregulierungen – brauchen aber andererseits staatliche Institutionen zum Schutz vor Kriminellen etc. Sie wollen Staatsferne – sind aber andererseits existenziell auf den Staat angewiesen. Bestes Beispiel dafür ist Elon Musk, dessen Unternehmensgeflecht hochdefizitär ist und der ohne staatliche Subventionen und Verträge mit dem Pentagon praktisch bankrott wäre.
Müsste ich die angebliche »Neoreaktion« in einen Satz fassen, dann diesen: Rechtslibertäre lassen sich notgedrungen auf robustes politisches Denken ein, um den zerbröselnden liberalen Westen noch so lange zusammenzuhalten, bis ihnen die Einleitung des nächsten fundamentalen Paradigmenwechsels (im ursprünglichen Wortsinn nach Kuhn) gelungen ist. Es handelt sich dabei also unterm Strich gerade nicht um eine echte Reaktion, sondern eher um eine Art von Progressismus mit autoritärem Potenzial – nur eben aus der Wirtschaftswelt heraus, die die Menschen leider noch immer instinktiv als eher konservativ wahrnehmen.
Also das, was Oswald Spengler den »Cäsarismus« nannte. Vielleicht ist das auch die einzige Option des sogenannten Westens?
Das Gerede von »letzten Optionen«, »letzten Chancen« und »letzten Generationen« ist mir zuwider. Nicht zuletzt deswegen, weil es in der Regel von Menschen kommt, die entweder etwas verkaufen oder aber ihre eigene Haut retten wollen (oder beides). Wenn man die verheerenden Auswirkungen des Individualismus und der Marktmentalität wiedergutmachen möchte, dann kann man das doch nicht durch noch mehr davon vollbringen – genau darauf laufen aber libertäre und »neoreaktionäre« Vorhaben in letzter Instanz hinaus. Der Wunsch nach einer Überwindung der Nation zugunsten von losen »Mikrostaaten«, die wie Privatunternehmen organisiert sein sollen, gehört da noch zu den zahmeren Gedankenspielen.
Gut. Dann bleibt nur noch eine abschließende Frage. Aus deutscher, rechter Sicht: Auf welchen nächsten US-Präsidenten sollten wir hoffen?
Kurz und bündig (und um auch wirklich alle Leser gegen mich aufzubringen): Für die deutsche Rechte ist es realpolitisch – Achtung: das ist nicht irgendeine ominöse »Reichweite« – völlig irrelevant, wer gerade US-Präsident ist oder wird. Genauso irrelevant übrigens wie Tweets von Elon Musk über den Umgang deutscher Systemparteien und -medien mit der AfD oder COMPACT.
»Unterhaltsamer«, um den Bogen zurück zur Ausgangsfrage zu schlagen, wäre es unzweifelhaft mit Donald Trump als Wahlsieger. Doch Unterhaltsamkeit ist kein Kriterium der Politik.
Lieber Nils, danke für das Gespräch!
2 Gedanken zu „»Völlig irrelevant, wer gerade US-Präsident ist oder wird« – Nils Wegner im Interview“