In der »Sonderverwaltungszone Hongkong der Volksrepublik China« herrscht seit Sommer Ausnahmezustand: Proteste demokratisch gesinnter Freiheitsliebender gegen die kommunistische Krake laut westlichen Medien einerseits, Krawall und gewaltsame Ausschreitungen von durch Amerika inszenierten und beeinflussten Farbrevoluzzern laut chinesischen Medien andererseits. Liberty versus Regime change, könnte man sagen. Doch ganz so einfach ist die Lage am südchinesischen Meer nicht. Die genauen Verhältnisse sind schwer zu skizzieren, doch grundlegende Prozesse und Interessenkonflikte lassen sich klar aufzeigen.
Eine kurze Geschichte des modernen Hongkong
Wie so oft ist es notwendig, sich die historischen und kulturellen Hintergründe, welche zu diesem Szenario führten, etwas genauer anzusehen. Nach den Opiumkriegen gelang es dem Vereinigten Königreich, zunächst die Stadt Hongkong und nach dem chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95 weiteres angrenzendes Land für sich zu gewinnen. Über die Dauer von 99 Jahren wurde ein »Leasingvertrag« mit der geschwächten chinesischen Regierung für diese »New Territories« abgeschlossen. Hongkong war somit bis Ende der 1990er Jahre noch eine britische Kolonie, ehe esan China zurückgegeben werden musste.
Dieser Rückgabe lag die Vereinbarung zugrunde, dass die Stadt ein marktwirtschaftlich-liberaldemokratisches System mit eigener Währung, Justiz und Verwaltungsstruktur bis ins Jahr 2047 erhalte – ehe sie komplett in die Volksrepublik eingegliedert würde. Über die Zugehörigkeit der Hongkonger zum chinesischen Volk gibt es bei den Einheimischen keinerlei Debatte; in erster Linie betrifft die Unterscheidung zwischenFestland und Stadtstaat die systemischen Verhältnisse, nicht die ethnokulturelle Identität. Nach der kommunistischen Kulturrevolution und der Isolierung Pekings durch den Westen blühte Hongkong zum Wirtschaftsknotenpunkt im Fernen Osten auf; etliche chinesische Unternehmer flohen samt Know-how und Technologien aus Peking vor dem neuen Regime, und weitere Flüchtlinge dienten bis in die 1960er Jahre als billige Arbeitskräfte.
Noch unter britischer Oberhoheit fanden jedoch bereits in den Jahren 1956, 1966 und 1967 Aufstände ähnlichen Charakters wie gegenwärtig statt. Auch damals wurden diese gewaltsam niedergeschlagen. Unter dem britischen Gouverneur fanden außerdem bis ins Jahr 1997 keinerlei Wahlen statt. Erst als die Übergabe der Region und somit der Kontrollverlust drohte, da das aufstrebende China kein Interesse an einer Verlängerung des »Leasingvertrags« zeigte, wurden Parlamentswahlen eingeführt.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rechnete man in London mit einem baldigen Kollaps des chinesischen Kommunismus und betrachtete ein quasi westlich-liberales Hongkong als die richtige Infektion an Chinas Leib, welche einen ähnlichen Prozess wie in Russland in Gang setzen könnte. Dass Hongkong deshalb als demokratische Metropol-Oase in Asien gilt, ist insbesondere in der westlichen Hemisphäre weitverbreitet. Umzingelt vom roten Drachen, finde sich hier ein Quell der liberalen Freiheit und des Wohlstandes. Tatsächlich kann, in einem neoliberalen Sinne zumindest, Hongkong als Musterbeispiel gelten.
Die Demokratie der 7,5-Millionen-Metropole steht heute gänzlich im Dienste des Kapitals. Nach dem Abzug der Briten übernahmen verschiedene Oligarchenfamilien die Kontrolle über den Immobiliensektor und sicherten sich ihren Einfluss. Aber auch institutionell ist die Herrschaft der Wirtschaft in Stein gemeißelt. Die Hälfte der Volksvertreter im Parlament wird von 28 Berufsgruppen gewählt, der Rest von den Bezirken. Damit sind die Stimmen aus der Wirtschaft deutlich gewichtiger als die weitaus größere Anzahl der Bezirksbewohner.
Von den ehemaligen Kolonialherren wurde auf diesem Wege der »Demokratisierung« ein Fortbestehen der Machtverhältnisse gesichert. Westliche Großkonzerne üben über das Parlament enormen Einfluss auf das politische System und Geschehen in der Region aus. So besitzt beispielsweise der Finanzsektor 130 Stimmen im Parlament, die durch 125 Wähler von Hongkonger Niederlassungender in Paris ansässigen Axa Gruppe sowie der Prudential PLC und HSBC PLC in London kontrolliert werden. Gleiches gilt für andere stimmberechtigte Branchen wie Gastronomie, Airlines, Flughafenbetreiber etc. Eine Änderung des Wahlrechtes war für 2017 vorgesehen, wurde jedoch vom Hongkonger Parlament verhindert.
Die politische Situation
Die Parteienlandschaft Hongkongs wird grob in ein »pro-demokratisches« und ein »pro-Peking-Lager« aufgeteilt. Bei den Wahlen 2016 gewann Letzteres mit überragender Mehrheit der Stimmen, wobei neben der Gewichtung der Unternehmen auch die direkte finanzielle und strukturelle Unterstützung aus dem Nachbarland nicht vergessen werden darf. Peking betreibt so viel Netzzensur, Propaganda und Überwachung wie möglich, um die enge Bindung zum politischen sowie wirtschaftlichen Establishment in der Hafenstadt zu stärken. Das »pro-demokratische« Lager hingegen hat aufgrund innerer Streitereien und ideologischer Richtungskämpfe parlamentarisch und teils gesellschaftlich bis vor Kurzem an Einfluss verloren. Darüber hinaus ist China allgemein längst keine dubiose Wirtschaftszone mehr, sondern eine ökonomische Weltmacht, mit der die in Hongkong ansässigen westlichen Großkonzerne gerne in geschäftliche Beziehungen treten. Eine stärkere Vernetzung zwischen Peking und Hongkong findet daher seit einigen Jahren durchaus statt.
Das hat bereits in der jüngeren Vergangenheit für Unruhen unter den Hongkongern gesorgt. Da sich der Wohlstand der Hongkonger Mittelschicht im Verhältnis zu dem des Festlandes seit den 1990ern drastisch verringert hat, existiert eine grundlegende Unzufriedenheit. Chinesische Unternehmer sind aufgrund der niedrigeren Löhne wieder nach Peking zurückgekehrt, die Miet- und Immobilienpreise sind enorm hoch, und die mittlerweile bestens ausgebildeten Festlandchinesen erscheinen als wohlhabende Touristen und Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt.
Der gestiegene sozioökonomische Druck erzeugt die erwartbaren Reaktionen: So finden sich auch einige lokalpatriotische und rechtspopulistische Strömungen unter den heutigen Protesten, die von Personen wie Edward Leung, der bis 2017 als Gesicht der Gruppe »Hong Kong Indigenous« galt, verkörpert werden. Leung sitzt derzeit für körperliche Gewalt, gerichtet gegen einen Polizisten während der Unruhen 2016, im Hongkonger Gefängnis. Diese Bewegungen setzen sich für eine vollständige Unabhängigkeit Hongkongs ein und richten sich auch direkt gegen die bestehende Gesetzgebung, wie beispielsweise das Daueraufenthaltsrecht für in Hongkong geborene Kinder ausländischer Mütter.
2004 wurde der Hong Kong Basic Law Article 23, durch den pekingfeindliche Gruppen eine Einschränkung der Meinungsfreiheit zugunsten Chinas befürchteten und dagegen erfolgreich die Massen mobilisieren konnten, durch Proteste verhindert. Zehn Jahre später bewirkte ein Gesetzesentwurf, der ein vom chinesischen Staat gebildetes Komitee für die Auswahl der Kandidaten zur Wahl des Hongkonger Verwaltungschefs vorsah, die zweitgrößten Proteste in der Geschichte Hongkongs. Die Protestler forderten freie Wahlen anstelle der existierenden korporatistischen Bevormundung und der drohenden Einflussausweitung Pekings. Geblieben ist es letztendlich beim Status quo.
Der Hintergrund der derzeitigen Proteste
2018 ermordete ein Hongkonger Tourist in Taiwan seine Freundin auf brutalste Weise. Verurteilt wurde er bis heute nicht, da keine klaren Auslieferungsabkommen zwischen Hongkong und Taiwan bestehen. Das war nicht der erste Fall dieser Art, und auch die Wirtschaftselite nutzt diesen Umstand, um in Ländern wie Kanada gegebenenfalls Asyl zu beantragen. Der Fall sorgte für große Empörung und erzeugte Druck auf die Hongkonger Politik. Um den Umgang mit solchen Fällen zu erleichtern, wurde ein Gesetzesentwurf vorgelegt, der ein Hongkonger Gericht als letzte Entscheidungsgewalt in der Frage einer Auslieferung vorsah.
Aus Angst davor, im Fall der Fälle der chinesischen Regierung ausgeliefert zu werden, sahen sich etliche Hongkonger Oligarchen durch diesen Entwurf einer beachtlichen Gefahr ausgesetzt. So wurden die anfangs kleineren Protestgruppen von Personen wie Peter Woo oder Jimmy Lai stark unterstützt. Lai ist ein Hongkonger Medientycoon, der aus offensichtlich persönlichem Interesse einen Propagandafeldzug gegen die chinesische Zentralregierung führt, seitdem Peking ihn dazu zwang, seine Modefabriken in China zu schließen und seine Aktien zu verkaufen. Und auch andere einflussreiche Hongkonger Familien fürchten sich vor Pekings Rache, haben sie doch unter anderem in den Opiumkriegen auf Kosten Chinas ihr Vermögen gemacht. Wirtschaftlich ist man mit dem Festland gerne vernetzt; sobald es aber vom rein Geschäftlichen abweicht, ändert sich die Lage.
Die Entwicklung der Proteste
Die Gesetzesentwürfe zur Auslieferung von Straftätern sind mittlerweile definitiv vom Tisch, und obendrein werden scheinbar zukünftig Mittel für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt. Die Unruhen hören jedoch nicht auf. So sind Gruppierungen, die sich entweder für die komplette Unabhängigkeit Hongkongs oder gar einen klassischen Regime change stark machen, längst die dominanten Kräfte in den anhaltenden Protesten. Auf demUniversitätscampus werden Molotowcocktails gebastelt, und die Gewaltspirale in den Reihen der Protestler dreht sich immer schneller.
Für die Geschäftswelt stellen die Unruhen mittlerweile ein Problem dar; sie schaden dem Image und bedeuten Unmengen an Verlusten. Somit sind viele einflussreiche Unterstützer auf Distanz zu den militanten Protestlern gegangen. Die Proteste, welche erst durchaus die große Zustimmung der Öffentlichkeit genossen, sind mittlerweile auch bei der Bevölkerungsmasse in die Kritik geraten. Einige Taxifahrer hissen die chinesische Flagge an ihrem Wagen, andere wagen den offenen Widerspruch.
Da die Protestler als Eskalationstaktik die Polizei mit immer aggressiverenMitteln zu härterer Gewaltanwendung provozieren, werden einst berechtigte Kritiker von vielen nur mehr als gefährliche Chaoten angesehen. Die Verbreitung von Videoaufnahmen solcher gewalttätigen Demonstranten durch die chinesische Regierung hat dies befördert. Obendrein wurde der auch von der bundesdeutschen »Tagesschau« hofierte Protestanführer Joshua Wong mit der amerikanischen Konsulatsmitarbeiterin Julie Eadeh fotografiert. Die Nähe zu US-amerikanischen Behörden ist einigen Hongkongern trotz ihrer antikommunistischen Haltung doch eher suspekt, wenn auch nicht allen.
Die Gelegenheit für Amerika
Für die Amerikaner, tief im Handelskrieg mit der asiatischen Wirtschaftsmacht, bietet sich hier die Gelegenheit, zuzuschlagen. Massive Propaganda wird betrieben, die »pro-demokratischen« Bewegungen und Organisationenwerden finanziell unterstützt und der einsetzenden Protestmüdigkeit wird mit dem Erlösungsversprechen von »westlicher Freiheit« begegnet. Die typischen Schlagwörter »Demokratie« und »Menschenrechte« werden in Stellung gebracht; so verabschiedete der US-Kongress den »Human Rights and Democracy Act«, um über die Lage in Hongkong zu wachen und gegebenenfalls Sanktionen gegen China zu verhängen. Die Hohe Kommissarin der UN-Menschenrechtskommission in Genf, Michelle Bachelet, forderte obendrein eine unparteiische Untersuchung bezüglich des Verhaltens der Hongkonger Polizei im Umgang mit den Demonstranten – ohne die dieser entgegenschlagende Gewalt einiger Vermummter zu erwähnen.
China wies jegliche Vorwürfe zurück, behauptete, der Westen hetze die Massen auf und provoziere weitere Gewalt, und erklärte seine Unterstützung für Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam – die wiederum von den anhaltenden Protesten ebenso irritiert und genervt ist. Man sollte sich dabei vor Augen halten, dass Hongkong offiziell chinesisches Territorium ist. Zwar unter Sonderstellung, jedoch Teil Chinas nach dem Konzept »Ein Land, zwei Systeme«. Sollten die Unabhängigkeitsbewegungen und US-Fahnen schwenkenden Protestler ihren Forderungen tatsächlich realisierbar nahekommen, ist davon auszugehen, dass China für Recht und Ordnung in seinem Sinne sorgen wird.
Bislang hat sich Peking hingegen weitestgehend zurückgehalten und wird dies vermutlich vorerst auch weiterhin, solange die Andauer der Unruhen für wirtschaftliche Schäden westlicher und Hongkonger Konzerne und schwindenden Rückhalt in der Bevölkerung sorgt. Die verbleibenden Protestgruppen sind nunmehr eindeutig pro-amerikanisch und unabhängigkeitsorientiert, was eine Zuspitzung zwar möglich, im Hinblick auf den erwartbaren Schaden durch den andauernden Ausnahmezustand jedoch nicht wahrscheinlich erscheinen lässt.
(Autor: Marvin Timotheus Neumann)
Ein Gedanke zu „Hongkong-Proteste (1): eine Einführung“