Ganz provokant gesagt: Mit Shinzo Abe verhält es sich etwa wie mit der Zurücknahme von Roe v. Wade durch den amerikanischen Obersten Gerichtshof.
Soll heißen: Bloß, weil etwas Linke zum Ausrasten bringt, muss es noch lange nicht an und für sich gut sein. Auf der permanenten Suche nach Lichtblicken neigt man rechterseits der Grenze des guten Geschmacks oft dazu, sich an jeden noch so fadenscheinigen Strohhalm zu klammern und dabei eine recht klägliche Figur zu machen.
Nach Bekanntwerden des Anschlages auf Shinzo Abe sind innerhalb der »Szene« einmal mehr ein paar ebenso abgedroschene wie dümmliche Sprüche über gewisse japanische »Traditionen« laut geworden, wie sie besonders Rechtslibertäre in ihren dauerpubertierenden Reddit-Träumen gern klopfen. Dabei wird sich meist auf die ikonenhaft gewordene Ermordung eines sozialistischen Politikers durch einen minderjährigen Aktivisten berufen.
Schwachsinniger digitaler Kraftmeierei in die Parade zu fahren, ist mir stets ein Vergnügen, deshalb hier nun die einordnenden Hintergründe zu jenem Attentat, niedergeschrieben 2019 von einem japanischen Nationalisten. Für den Hinweis bin ich meinen grenzwertigen Twitter-Kontakten zu Dank verpflichtet.
In Gedenken an Inejiro Asanuma, Otoya Yamaguchi und die turbulente Nachkriegszeit
Am 19. Januar 1960 wurde das wohl umstrittenste Gesetz der japanischen Nationalversammlung verabschiedet. Die Unterzeichnung des »Vertrag über gegenseitige Kooperation und Sicherheit zwischen Japan und den Vereinigten Staaten«, kurz »Anpo«, sorgte für ausufernde Unruhen und war wahrscheinlich der einzige Anlass in der japanischen Nachkriegsgeschichte, zu dem sich alle Schichten der Gesellschaft gemeinsam erhoben und gegen etwas protestierten, das sie als Verhöhnung der parlamentarischen Demokratie ansahen. Der damalige japanische Premierminister Kishi Nobosuke hatte demokratische Winkelzüge benutzt, um das Gesetz und den Vertrag durch das Parlament zu peitschen.
Die politischen und geopolitischen Auswirkungen des Anpo dienten lediglich zur Verfestigung eines Friedensvertrages, der bereits 1951 unterzeichnet worden war und Japan die Kastrierung seiner geopolitischen Macht und Souveränität gebracht hatte (Vertrag von San Francisco). Die Amerikaner waren rechtlich abgesichert dazu in der Lage, ihren Einfluss und ihre Interessen folgenlos in die japanische Innenpolitik hinein auszudehnen. Nach der Unterzeichnung jenes Vertrages war es zu den gewaltsamen Demonstrationen am 1. Mai gekommen, den wohl blutigsten Ausschreitungen in der japanischen Nachkriegsgeschichte. Anpo nun ermächtigte die Amerikaner zusätzlich zur Besetzung von Okinawa, um dieses Territorium für ihre Abenteuer in Übersee benutzen zu können.
Im Kontext des Kalten Krieges wurde Japan so an die Seite der Amerikaner gezwungen. In seiner unmittelbaren Nähe gelegen waren die Sowjetunion und die Volksrepublik China, die beide Anpo als direkte Bedrohung betrachteten. Es bestand die Befürchtung, dass Japan für die Amerikaner nichts weiter als ein Bauernopfer darstelle. Als die Sowjets im Mai 1960 ankündigten, jeden Flugplatz anzugreifen, von dem aus amerikanische Spionageflugzeuge starteten, verschärften sich die Proteste. Japan, kastriert und seiner geopolitischen Souveränität praktisch beraubt, wurde ohne eigenes Zutun zum Ziel gemacht. Derartige Auseinandersetzungen dominierten die frühe Nachkriegszeit, und die inneren Spannungen in Japan waren nie wieder derart hoch.
Die japanische Verfassung von 1947 ist ein weiterer Streitpunkt. Sie wurde nicht einmal von den Japanern selbst geschrieben, sondern von den Amerikanern. Im Rahmen dieser Verfassung verfügt Seine Kaiserliche Hoheit über keinerlei Autonomie und ist gänzlich der säkularen Regierung unterworfen, die wiederum den Amerikanern untersteht. Das Herrscherhaus kann nicht einmal seine eigenen Thronfolgeregelungen ändern, ohne sich von einer Institution, die auf einem Gesellschaftsvertrag beruht, ein entsprechendes Gesetz genehmigen zu lassen. Die von den Amerikanern geschriebene Verfassung zerstört die kaiserliche Autonomie vollständig und missachtet die japanische Tradition – und all das gegen den Willen des japanischen Volkes. Man könnte sagen, dass wir am Tiefpunkt der japanischen Zivilisation leben, in einem Japan, das unterworfen und gedemütigt wurde, dessen Geister [der Ahnen; N. W.] beleidigt und dessen Göttlichkeit [des Kaisers; N. W.] verachtet wurde. In vielerlei Hinsicht ist es ein endloses 1945.
Nun sind wir schon im fünften Absatz, und ich habe noch keine der Personen aus der Überschrift erwähnt. Es ist wichtig, sich der politischen Situation in Japan zu jener Zeit bewusst zu sein, der Umstände, unter welchen Inejiro Asanuma – der damalige Vorsitzende der Nihon Shakaito (Sozialistische Partei Japans) – seine politischen Entscheidungen traf und aus welchen heraus er Annäherungsversuche bei Mao und den Sowjets machte. Selbstverständlich gilt das genauso für Otoya Yamaguchi.
Jeder kennt die Geschichte des Attentats. Am 12. Oktober 1960 hielt Inejiro Asanuma in der Hibiya Hall, mitten in Tokio, eine harmlose Ansprache, als ihm ein Jugendlicher namens Otoya Yamaguchi einen Yoroi-doshi [historischer Dolch zum Durchstechen der Lücken in Rüstungen; N. W.] tief in die Flanke stieß. Kurz darauf beging Yamaguchi im Gefängnis Selbstmord, nachdem er geschrieben hatte: »Sieben Leben für das Reich! Lang lebe Seine Majestät, der Kaiser!«
Auf den ersten Blick und ohne Kenntnis der Zusammenhänge hatte da einfach irgendein »faschistischer« Bengel einen »sozialistischen« Parteiführer getötet. Es gibt viele Möglichkeiten, auf diesen ersten Eindruck zu reagieren. Man kann den jungen »Faschisten« dafür feiern, dass er Japan vor dem kommunistischen Internationalismus und dem Verhungern gerettet hat – er also den Grundstein dafür gelegt hat, dass wir heute alle Animes schauen können. Man kann aber auch diesen Lobpreisungen widersprechen und stattdessen den Tod eines »Genossen« betrauern. Man könnte die Geschichte auch als Mahnung gegen politische Gewalt benutzen, und so weiter. Doch das alles kratzt nur an der Oberfläche. Wir wollen tiefer blicken.
Man hört so gut wie nie davon, wie Inejiro Asanuma sein Leben verbracht hat. Er wurde am 27. Dezember 1898 geboren, besuchte ab 1918 die Waseda-Universität, schloss sich dort sozialistischen Organisationen an und nahm an zahlreichen Demonstrationen gegen das Militär teil. Ebenso demonstrierte er als Student für die Rechte der Bauern und gegen die landesweiten Arbeiterprobleme. Nebenbei (und zur Auflockerung) bemerkt: Er hatte immer schon einen ziemlich massigen Körper und wurde in den Sumo-Kader seiner Universität aufgenommen. Später, als Politiker, erwarb er sich mit seiner bulligen Statur und seiner lauten Stimme den Spitznamen Ningenkikansha (»menschliche Lokomotive«).
Asanuma verließ die Waseda-Universität 1923 mit einem Abschluss in Staats- und Wirtschaftswissenschaften. 1925 wurde er Generalsekretär der Nominrodoto (Bauern- und Arbeiterpartei), die noch am Tag ihrer Gründung von der Taisho-Regierung verboten wurde. Nach diesem Vorfall wandte er sich einem »nationalen Sozialismus« zu. Zur Klarstellung: Dabei handelte es sich eher um einen »Nationalbolschewismus« als eine Art von Hitlerbewegung. In den frühen 1930er Jahren schloss sich Asanuma der Shakai Taishuto (Soziale Massenpartei) an, der einzigen linken Partei, die damals in Japan erlaubt war. Asanuma nahm nun einen Standpunkt ein, der sowohl dem Militär als auch den Bauern gegenüber positiv war, während die Partei gute Verbindungen zur »Gruppe der Kontrolle« [konservativ-autoritäre Gegenfraktion zur radikal bellizistischen »Gruppe des kaiserlichen Weges« des japanischen Offizierskorps; N. W.] unter Hideki Tojo [während des Zweiten Weltkrieges Premierminister und praktisch Militärdiktator Japans; N. W.] innerhalb des Kaiserlichen Heeres knüpfte.
1936 wurde er erstmals ins Repräsentantenhaus gewählt, und 1940 ging die Shakai Taishuto in der Einheitspartei Taisei Yokusankai (Kaiserliche Unterstützungspartei) auf. Er wurde zum Stellvertretenden Direktor der Forschungsabteilung der temporären Wahlbehörde (ich weiß, ein langer Titel) innerhalb der Taisei Yokusankai ernannt. 1942 verzichtete er auf eine Kandidatur bei den parteiinternen Wahlen, weil ihm der Tod seines Freundes Hisashi Aso, des ehemaligen Führers der Shakai Taishuto, zwei Jahre zuvor so großen Kummer bereitet hatte.
Nach dem Krieg wurde Asanuma Vorsitzender der Sozialistischen Partei Japans. In dieser Partei gab es zahlreiche Flügelkämpfe, vor allem jenen der radikalen Marxisten-Leninisten zusammen mit den nationalen Sozialisten gegen die eher zentristischen Sozialdemokraten. Diese Spaltung verfestigte sich mit der Unterzeichnung des Vertrages von San Francisco 1951. Die japanische Rechte erhob keinerlei Einsprüche und stimmte der Unterzeichnung des Vertrages zu, während die japanische Linke außer sich war und sich mit aller Macht dagegenstemmte. Letzten Endes stellte sich auch Asanuma gegen den Vertrag, und die Sozialistische Partei Japans zerbrach in linken und rechten Flügel. Asanuma wurde zum Generalsekretär der Rechtssozialistischen Partei ernannt. 1955 schlossen sich die beiden Parteien jedoch wieder zusammen, und Asanuma wurde erneut Generalsekretär der wiedervereinigten Sozialistischen Partei Japans.
1959 machte Asanuma dem maoistischen China seine Avancen und bezeichnete die Vereinigten Staaten als den gemeinsamen Feind Japans und Chinas. Seine Äußerungen sorgten für erhebliche Unruhe in der japanischen Politik und zogen selbst vonseiten anderer Sozialisten Kritik auf sich. Für Asanuma war hinsichtlich einer geopolitischen Neuorientierung der Blick nach China nur logisch, weil es sich bei der Volksrepublik um den mächtigsten antiamerikanischen Akteur in der Region handelte. Und damit endet Asanumas Geschichte, soweit die Weltgeschichte mitbetroffen ist. Das Wichtigste ist, dass ich nicht einen einzigen Fall erwähnt habe, in dem Asanuma sich von irgendeiner seiner Handlungen in der Vergangenheit distanziert hätte – er hat sich also niemals von seinen nationalistischen Ansichten abgewandt. Er hat auch niemals seine Verehrung für Seine Kaiserliche Hoheit widerrufen oder sich für seine Mitarbeit in der Taisei Yokusankai entschuldigt.
Mit seinen Annäherungsversuchen erregte er den Zorn eines gewissen Otoya Yamaguchi, der Asanuma deswegen als Verräter anprangerte. Sein Plan, Asanuma zu ermorden, kam wenig überraschend, hatte er doch im Vorjahr bereits eine Reihe von Gewalttaten begangen. So hatte er beispielsweise einen Polizisten verletzt, Rauchbomben in einen Demonstrationszug geworfen und Hausfriedensbruch begangen. Aufgrund seines Alters hatte er jedoch immer nur Bewährungsstrafen erhalten. Er war in die Dai Nihon Aikokuto (Großjapanische Patriotische Partei) von Akao Bin eingetreten, eine der rechten Gruppen, die sich häufig Schlägereien mit Demonstranten gegen den Anpo lieferten.
Dazu muss man wissen, dass die Dai Nihon Aikokuto schon seit den 1920er Jahren proangloamerikanisch war und die politische Rechte in Japan Kommunismus und Sozialismus als schädlich für das nationale Gemeinwesen (kokutai) betrachtete. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Yakuza allgemein rechts gesinnt waren und von den Amerikanern ebenso wie von der japanischen Regierungspartei (Liberaldemokratische Partei) instrumentalisiert wurden, um Anpo-Gegendemonstranten und generell jeden Antiamerikaner zu drangsalieren.
Yamaguchi, ein ultranationalistischer Eiferer, starb also als Kindersoldat der uyoku dantai [etwas diffuser politischer Sammelbegriff, ungefähr analog zu »extreme Rechte« in der BRD – in Japan entspricht »ultranationalistisch« unserem »rechtsextrem«; N. W.]. Seine Taten erschütterten das ganze Land bis ins Mark und beflügelten die Fantasie vieler Rechter jener Zeit, denn eine derartig direkte und öffentliche politische Aktion hatte es seit dem Zwischenfall am 26. Februar 1936 [Putschversuch des radikalen Offiziersflügels, bei dem die Regierungsgebäude in Tokio zeitweilig besetzt und mehrere ranghohe Beamte ermordet wurden; N. W.] nicht mehr gegeben. Ich möchte an dieser Stelle nochmals daran erinnern, dass Asanuma seine nationalistischen Ansichten niemals widerrufen hat und den Kaiser bis an sein Lebensende verehrte. Wir können also die Behauptung aufstellen, dass Yamaguchi und Asanuma in Wahrheit ultranationalistische Kameraden waren.
Die dringendste Frage im Kalten Krieg war jene der geopolitischen Positionierung: entweder mit den USA, mit den Kommunisten oder außerhalb der Blockkonfrontation. Darin standen sich Asanuma und Yamaguchi letzten Endes gegenüber – in ihren Ansichten darüber, welches politische Gebilde am schädlichsten für das japanische Gemeinwesen und Seine Kaiserliche Hoheit sei. Asanuma hielt die amerikanische Besatzung für schlimmer, Yamaguchi (und die Rechte insgesamt) hingegen China, Korea und den Kommunismus/Sozialismus. Das war der Grund, weshalb Yamaguchi Asanuma derart beschuldigte.
Innerhalb der damaligen japanischen Rechten stimmten nichtsdestoweniger alle darin überein, dass Asanuma und Yamaguchi beide gleichermaßen moralisch aufrechte Menschen seien, die ihren Prinzipien treu geblieben waren. Ein Attentat als solches ist in meinen Augen über jede Kritik erhaben; das Problem liegt hier in der Auswahl des Zieles, den Folgen der Taten Yamaguchis und der Berechtigung seines Entschlusses zu töten, ganz gleich, wie rein sein Herz auch gewesen sein mag.
Angesichts des Ansehens, das Asanuma genoss, und seines Potenzials für eine mögliche projapanische Souveränitätsbewegung muss all dies in der Tat hinterfragt werden. Zu jener Zeit war Asanuma der Ansicht, dass Japan geopolitisch unabhängig werden und sich aus der Knechtschaft gegenüber Amerika befreien könne. Die Folge seiner Ermordung war die Kastrierung jeder Position zugunsten der japanischen Souveränität, die es danach nur noch innerhalb der »Neuen Linken« (Zengakuren) und bei noch radikaleren marxistischen Dissidenten gab.
Wenn man den Fokus auf die geopolitische (und kaiserliche) Souveränität Japans legt, so würde ich annehmen, dass nationaler Sozialismus in Verbindung mit Antiatlantizismus, so wie bei Asanuma, die beste theoretische und praktische Ausrichtung während des Kalten Krieges gewesen wäre. Gerade in Anbetracht der Tatsache, wie zersetzend sich die US-Besatzung der Hauptinseln auf das nationale Gemeinwesen ausgewirkt hat – wie knechtisch Japan geworden ist. Akao Bin und Otoya Yamaguchi hingegen waren ebenso Patrioten (Ersterer hatte sich von der politischen Instrumentalisierung der Yakuza distanziert), doch die antikommunistische und atlantizistische Ausrichtung der Dai Nihon Aikokuto ist für mich inakzeptabel.
Es ist der Jahrestag der Ermordung Asanumas, und so schreibe ich dies zum Gedenken an Asanumas und Yamaguchis patriotische Taten, insbesondere an Yamaguchis tapferes Ende. Ich finde es tragisch, dass ein Patriot es für notwendig hielt, einen anderen Patrioten zu ermorden, während beide bis zum Schluss den Kaiser verehrten. Nach einer derartigen Tragödie bleibt nichts als die Klage um den Tod eines Patrioten – es ist, als ob ein Familienmitglied ein anderes getötet hätte.
Merke: Nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint, schon gar nicht in der (Geo-)Politik. Und je nachdem, wie sich die Lage in der nächsten Zeit entwickelt, mag noch manch anderes allzu billige Mem mit einem Sayonara zu den Akten zu legen sein.
(Autor/Übersetzer: Nils Wegner)