Anfang Juli erscheint mit Heimat Europa in unserem Verlag ein einzigartiges Konvolut – nämlich die erstmals in einem Sammelband vereinten und zudem erstmals ins Deutsche übertragenen (politischen) Reiseberichte des französischen Schriftstellers Pierre Drieu la Rochelle. Der Herausgeber Benedikt Kaiser erklärt im nachfolgenden Beitrag, worum es bei dieser Veröffentlichung geht. Und vor allem: wie aktuell sie ist.
Das Buch kann hier vorbestellt werden.
In »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« findet sich ein Zitat Karl Marxens, das bis heute immer wieder zitiert wird:
»Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.«
Nimmt man dieses Bonmot ernst, kann man es damals wie heute auf die europäische Frage anwenden. Und befindet sich so prompt im Ideenkonvolut des französischen Schriftstellers Pierre Drieu la Rochelle (1893–1945). Denn Drieu litt insbesondere in den 1930-Jahren an der Zerrissenheit der europäischen Völker, an der Kleinstaaterei, an nationalen Chauvinismen, übergeordnet: an der fehlenden Bereitschaft der Europäer, sich selbst einen gesamteuropäischen Schutzschirm aufzuspannen, unter dem es sich jenseits der Zugriffe raumfremder Großmächte – damals: USA und Sowjetrussland – in Selbstbestimmung leben ließe.
Als Gefühl- und Vernunfteuropäer empfand er es als Tragödie, dass sich Ungarn und die Tschechoslowakei oder Frankreich und Deutschland um einige Quadratkilometer gemeinsam bewohnter europäischer Erde stritten. Gleichwohl wollte er die einzelnen beteiligten Völker verstehen, ihre sozial-materiellen und kulturellen Besonderheiten untersuchen, von ihrem Lebensalltag erfahren. Daher bereiste er in einer Zeit, in der Mobilität für Jedermann als Grundvoraussetzung noch nicht gegeben war, die beteiligten Konfliktländer, sprach mit Führungspersonen und »einfachen Leuten«, Soldaten und Politikern, Unternehmern und Arbeitern. Anschließend berichtete er seinen überwiegend französischen Lesern von seinen Eindrücken und Erfahrungen: plastisch, persönlich, politisch. So wurden Drieus Bilder und Gedanken zur konfliktreichen »Heimat Europa« in den spannendsten Jahren des 20. Jahrhunderts dem Leser vermittelt – ohne den moralpolitischen Zeigefinger zu erheben, ohne den Völkern und ihren Vertretern die Leviten zu lesen. Diese Berichte liegen nun erstmals auf Deutsch vor und künden vom ehrlichen »Verstehen-Wollen« Drieu la Rochelles.
Dass seine idealtypische Konstruktion eines vereinigten Europas, das in sich vielfältig und föderal gegliedert geworden wäre, und das über ein Organisation und Orientierung gestaltendes und garantierendes »Zentrum« zur Wahrung genuin europäischer Interessen wider übergriffige Interventionsmächte verfügen hätte sollen, nie real verwirklicht wurde, ist bekannt. Ebenso bekannt ist, dass die Probleme, die Drieu wie kaum ein zweiter analytisch durchdrang, auch heute noch einer Lösung harren. Schauen wir nach Ostmitteleuropa, sehen wir ein konkretes Beispiel für diese These. Die baltischen Staaten etwa fügen sich voller Begeisterung der US-Hegemonie, weil sie aus eigener schmerzhafter Erfahrung wissen, was eine gefürchtete neuerliche russische Hegemonie für ihre nationalkulturelle Souveränität bedeuten würde. Aber auch für die Ukraine scheint es insbesondere die Leitfrage zu geben, ob man sich Washington oder Moskau unterwirft – die Liste ließe sich fortsetzen.
Für einen dezidiert europäischen Standpunkt der Jetztzeit ist die Ausgangsbasis also eine ähnliche wie diejenige, die Drieu vorfand: Kleinstaaterei, nationalchauvinistische Zuspitzung, bereitwillige Subordination unter die Herrschaft raumfremder Mächte usf. Die Ereignisse ähneln sich, halbkontinentale Souveränität ist weiter denn je in die Ferne gerückt; ja: Heute wiederholt sich die Geschichte als Farce.
Ein weiteres häufig wiedergegebenes Zitat aus Marxens Schrift »Der achtzehnte Brumaire« lautet wie folgt:
»Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«
Weil Marx hier Recht behält, bestünde die primäre Aufgabe jener Akteure, die – abseits wohlfeiler Floskeln – tatsächlich »aus der Geschichte« lernen wollen, darin, diese (europäische) Geschichte, die wir vorgefunden haben, weil sie uns so überliefert wurde, anzunehmen und die richtigen Schlüsse aus ihr zu ziehen. Drieu wirkt hier als »Lehrmeister«. Nicht so sehr, weil er mit allem, was er subjektiv sah, objektiv richtig lag. Sondern vor allem deshalb, weil er ähnliche Fragen stellte, die wir heute zu stellen haben: Kann es ein eigenständiges Europa in der Geopolitik der Spätmoderne geben? Wie wirken sich nationale Traumata auf den Entstehungsprozess eines solchen Europas aus? Welche Rolle spielen »Mikronationalismen«, also die Selbstbehauptungsideen »kleiner« Völker? Wo liegt Gemeinsames, wo Trennendes? Gibt es keine Alternative zur Subordination unter eine raumfremde Macht, ob sie nun in Washington, Peking oder Moskau beheimatet sein möge?
Diese und weitere mögliche Fragen sind substanziell gleichgeblieben – damals wie heute. Drieu warf sie auf, unter seinen Bedingungen, mit seinem Vokabular, mit seinem Erfahrungsschatz, basierend auf seinen weltanschaulichen Prinzipien. Und wir werfen sie heute auf – mit den unsrigen Besonderheiten und ideenpolitischen Halteseilen. Das ergibt keine Deckungsgleichheit und auch keine stumpfe Wiederholung des Immergleichen. Aber es lehrt uns einmal mehr, dass es primär an uns jungen Europäern ist, aus den Fehlern der einstigen Tragödie und den Mängeln der heutigen Farce die korrekten Schlüsse zu ziehen.
(Autor: Benedikt Kaiser)
Ein Gedanke zu „Mit Drieu Geschichte erleben“