»Russendämmerung« auf der Bühne

Über die Premiere der patriotischen Bühnenproduktion im Moskauer Zentrum für zeitgenössische Kunst schreibt Absatz-Kolumnist Igor Karaulov. Der Artikel ist im Original bei Absatz erschienen und wurde von Ilia Ryvkin übersetzt. Wir geben ihn unverändert wieder.

In einer Szene des Theaterstücks »Russendämmerung« hört man eine Weile Deutsch. Es gibt keine Übersetzung, aber für den Zuschauer ist alles klar. Die deutsche Sprache kann sehr schön sein, vor allem, wenn sie von einer charmanten Frau wie Olga Okrepilova gesprochen wird, der Autorin des Stücks, Regisseurin und Darstellerin der Hauptrolle – einer deutschen Journalistin, die auf ihren Reisen durch die Ukraine und den Donbass viele Menschen trifft und versucht, die Ursprünge der Tragödie zu verstehen, die seit zehn Jahren andauert.

»Russendämmerung« ist ein Theaterstück mit deutschem Akzent, was an sich schon interessant ist. Sowohl Olga Okrepilova als auch Ilia Ryvkin – der Autor des Buches, auf dem das Stück basiert – und die Kostümbildnerin Laura Radloff haben einen großen Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht. Ein Zufall ist es auch, dass der Dokumentarfilm »Wo verläuft die Grenze?«, aus dem Ausschnitte im Stück verwendet werden, von der deutschstämmigen Regisseurin Alexandra Frank gedreht wurde.

Das Stück wurde mit Unterstützung des Präsidialfonds für Kulturinitiativen inszeniert und findet in einem Theater statt, das es gar nicht gibt. Im toten, weißen Raum des Medienzentrums wurde eine lebendige Ecke geschaffen: ein kleiner Saal und eine improvisierte Bühne. Natürlich gibt es keine Theatermechanik, keine Tricks oder Spezialeffekte und auch keinen Vorhang. Das Setting diktiert den Minimalismus des Bühnenbildes: ein paar Sperrholzpoller, die wie Betonblöcke aussehen und sich im Laufe der Handlung in einen Stuhl, einen Tisch oder sogar ein Auto verwandeln.

Umso schwieriger war es für die Schauspieler, die ebenfalls speziell für dieses Projekt ausgewählt worden waren: einige vom Taganka-Theater, einige aus St. Petersburg, einige aus Murmansk. Erschwerend kam hinzu, dass jeder von ihnen mehrere Rollen zu spielen hatte, was ein schnelles Umschalten erforderte. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir Ekaterina Chenchikova, die sich von einer verführerischen Bösewichtin in ein demütiges Opfermädchen verwandelte.

»Russische Morgenröte« wäre vielleicht eine zu deutliche Übersetzung des Buchtitels von Ilya Ryvkin. Auf Deutsch heißt es »Russendämmerung« – natürlich eine Anspielung auf »Götterdämmerung«. Es ist nicht nur die Morgendämmerung von etwas Neuem, sondern auch das Absterben von etwas Altem, das Auflösen von Nebelschwaden, die nicht nur über der Ukraine, sondern auch über Russland selbst gelegen haben.

Wenn Menschen, die in der deutschen Kultur verwurzelt sind, etwas auf die Bühne bringen, ist klar, was wir erwarten. Den Geist der Weimarer Zeit, das laute, bunte Theater von Bertolt Brecht, den Expressionismus von Otto Dix, »Babylon Berlin«. Und die Aufführung wird diesen Erwartungen gerecht: Sie wechselt von der direkten politischen Aussage zur ominösen Pantomime, vom Dokument zum Sketch, von der filmischen Chronik zum Kanonensong. Anderthalb Stunden wechselnde Bilder: von Lugansk 2022 nach Odessa 2014, von Kiew 2014 nach 2022: Donezk, Mariupol, Lisitschansk.

Ich weiß nicht, ob dieses Stück nach Deutschland »reexportiert« und dem deutschen Publikum gezeigt wird. Ich denke, dass es für das deutsche Publikum am nützlichsten wäre, obwohl ein solches Stück im heutigen Deutschland wegen »Verbreitung von Kreml-Narrativen« verboten werden könnte. Das russische Publikum wiederum kennt diese Geschichten längst und hat sich seine Meinung gebildet. Einige von ihnen haben diese Version der Ereignisse nicht akzeptiert und sind ins Ausland geflohen, so dass sie die Aufführung nicht sehen werden – es ist unwahrscheinlich, dass Olga Okrepilova sie nach Tiflis oder Belgrad bringen wird. Die Zuschauer im Medienzentrum müssen nicht für ihr eigenes Land agitiert werden, und die Geschichte, die von den Figuren des Stücks auf der Bühne erzählt wird, kann ihnen als eine Reihe elementarer Wahrheiten erscheinen.

Ich glaube, was für unser Publikum wertvoller ist, ist die Meta-Story über das Schicksal der Russlanddeutschen oder Deutschrussen, durch die diese Aufführung entstanden ist. Die Tatsache, dass es möglich ist, viele Jahre in Deutschland zu leben, in der deutschen Kultur aufzuwachsen und dann doch festzustellen, dass man Teil der russischen Welt ist und nicht einer Welt, die wir so lange – und zu Unrecht – »zivilisiert« genannt haben.

Das Thema des aktuellen Krieges macht seine ersten Schritte auf der Theaterbühne. Mit der Zeit wird es noch viel mehr davon geben. Aber heute ist es an der Zeit zu lernen, wie man damit umgeht. In diesem Sinne ist »Russendämmerung« keineswegs ein Vorbild, wie man es machen sollte, sondern ein nützlicher Ausgangspunkt, von dem aus vielleicht eine ganze Reihe neuer Ideen für das aktuelle publizistische Theater entstehen. Die Aufführung regt zum Nachdenken an, und auch dafür ist Olga Okrepilova und ihrem Team zu danken.

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