Soziale Gerechtigkeit ist kein Wert für die Rechte

Unser Autor Bruno Wolters (Eigentum und Ordnung) nimmt Stellung zur Besprechung seines Buches im Freilich-Magazin.

In der Rezension meines Buches durch Julian Schernthaner wird ein Punkt angesprochen, der auf die Frage der sozialen Gerechtigkeit zielt und der als der große Kritikpunkt des Buches bezeichnet wird, in den Worten des Rezensenten:

Ein guter Essay, dem man in großen Teilen zustimmen kann, ist nur dann wirklich provokant, wenn sich auch eine Stelle darin findet, bei der man den Drang verspüren kann, den Autor am Kragen zu packen und ihn in einem regelrechten Ohrschellengewitter zur Rede zu stellen, was er sich dabei wohl dachte. In Wolters’ Fall ist es aus Sicht des Rezensenten die vollständige Überwindung des Konzeptes der sozialen Gerechtigkeit.

Für Schernthaner muss die soziale Gerechtigkeit mit der guten Ordnung vermählt werden, eine Vernachlässigung der sozialen Gerechtigkeit würde die Dimensionen der guten Ordnung überhöhen. So weit, so gut.

Schernthaner begeht hier einen populären Fehler, der auf einer falschen Perspektive beruht. Doch zunächst zum Grundsätzlichen: Was ist soziale Gerechtigkeit? Immerhin handelt es sich um einen Begriff, der allzu gern und oft benutzt wird, wenn es um Sozialpolitik geht. Unter sozialer Gerechtigkeit versteht man gesellschaftliche Zustände, die hinsichtlich der relativen Verteilung von Rechten, Chancen und Ressourcen als fair oder gerecht bezeichnet werden können. Wir haben es also mit einer materialistischen Perspektive auf die Gesellschaft zu tun, d. h. es sind vor allem Verteilungsfragen, die im Mittelpunkt der sozialen Gerechtigkeit stehen. Ist es sozial gerecht, wenn eine Person mehr hat als eine andere? Lösungen für soziale Gerechtigkeit sind dementsprechend häufig Umverteilungen, sei es durch Eigentumsveränderungen oder durch staatliche (Transfer-)Leistungen. Der Staat versucht, soziale Ungerechtigkeiten abzumildern oder – im besten Fall – zu beseitigen. Dies kann sich sogar in bestimmten Rechten niederschlagen, die der Bürger besitzt und auf die er einen Anspruch hat. Im deutschen Grundgesetz wird die Sozialstaatsklausel in diesem Sinne immer weiter ausgedehnt – es sei hier nur auf die Forsthoff-Abendroth-Kontroverse verwiesen.

Der gesamte Parameter der sozialen Gerechtigkeit basiert auf einer grundsätzlich liberalen Prämisse, nämlich einem egalitären Gesellschaftsverständnis. Denn schließlich geht es bei sozialer Gerechtigkeit immer um Relationen, um Vergleiche und um die Herstellung von Bezügen zwischen verschiedenen Akteuren. Hinter all diesen Fragen und Antworten steht implizit immer eine egalitäre Ordnung – etwas kann nur ungerecht sein, wenn es Unterschiede gibt. Eine differenzierte Gesellschaft ist schon rein logisch und begrifflich in gewissen Formen »ungerecht«, weil Unterschiede immer ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit mit sich bringen. Liberale und Linke versuchen, wie ich in meinem Buch dargestellt habe, diese Unterschiede so zu minimieren oder gar aufzulösen, dass es in diesem Sinne keine soziale Gerechtigkeit mehr geben kann. Wenn alle gleich viel haben, wenn alle gleich sind, dann gibt es keine soziale Ungerechtigkeit mehr. Die Schriftstellerin Mary Renault beschrieb das der sozialen Gerechtigkeit innewohnende Problem mit folgenden Sätzen, als sie ihre Figuren im antiken Athen über Gerechtigkeit diskutieren ließ:

Gerechtigkeit? Wenn die Götter einem Menschen Weisheit oder Besonnenheit oder Erfahrenheit verleihen, muss man ihn dann herunterreißen, als hätte er all das gestohlen? Bald ist es soweit, dass wir unsere besten Athleten im Namen der Gerechtigkeit und auf Veranlassung der schlechtesten krumm und lahm schlagen.

Mary Renault: »Der Läufer und sein Held«, München 1998.

Soziale Gerechtigkeit ist in diesem Sinne Zweck, Ziel und Katalysator der liberalen permanenten Revolution. »Es ist sozial ungerecht, wenn es Menschen in Afrika schlechter geht als Menschen in Deutschland, darum müssen wir die Menschen von dort hier aufnehmen und vor Ort Entwicklungshilfe leisten« – dieses Argumentationsmuster lässt sich beliebig fortsetzen. Die hypertrophen Auswüchse dieser Perspektive können wir derzeit in Frankreich beobachten: Hier werden die Unruhen im Mainstream nur noch als Folge einer materiellen Fehlverteilung interpretiert. Alles ist nur noch eine Frage, wer wann wo wie viel Geld bekommt und bekommen soll. Die Eindimensionalität der Politik als Folge sozialer Gerechtigkeit. Politik als Verwaltungs- und Sachfrage, die sich nur noch über Zahlen und Kontensummen definieren lässt.

Kann soziale Gerechtigkeit »von rechts« gedacht werden? Muss eine rechte Ordnung eine sozial gerechte Ordnung sein?

Bei der Beantwortung dieser Frage stoßen wir auf grundlegende sozialphilosophische Fragen. Zu oft sind wir sozialphilosophisch immer noch von liberalen und linken Ideen und Gedanken abhängig. Wir denken immer noch zu oft in den Parametern der Gerechtigkeit, die – wie wir gesehen haben – ein zweischneidiges Schwert ist, und ich bin der Meinung, dass eine Rechte eine andere Perspektive einnehmen sollte. Eine rechte Gesellschaftsordnung definiert sich nicht in erster Linie darüber, inwieweit sie gerecht ist, sondern darüber, ob sie gut und wahr ist.

In diesem Sinne ist die soziale Frage auch nicht typisch links, sondern aus den Prämissen rechter und konservativer Gedanken entsprungen: die Gesellschaft zu stabilisieren und eine gute Ordnung zu finden. Der heutige plumpe Linkspopulismus, der die armen Massen und den abstiegsbedrohten Mittelstand gegen die Reichen ausspielen will, dabei mit Gerechtigkeit und Gleichheit argumentiert und eine soziale Gerechtigkeit durchsetzen will, ist eine falsche soziale Frage. Es geht hier also um einen grundsätzlichen Perspektivwechsel, eine völlig andere Form der Sozialkritik, die ich auch anderswo skizzierte.

Man kann die unterschiedlichen Perspektiven auf zwei Begriffe bringen: Eunomia und Isonomia. Eunomia ist in der griechischen Mythologie die Tochter von Zeus und Themis. Sie galt als Personifikation der Rechtsordnung und wurde zeitweise als Hüterin des Friedens gefeiert. Isonomia bezeichnete im antiken Griechenland die politische Gleichheit aller Vollbürger einer Polis vor dem Gesetz. Modern formuliert: Dieses meint eine gleiche und menschliche Ordnung, jenes eine gute und göttliche Ordnung. Schließlich ist die Eunomia die Tochter eines Gottes, während die Isonomia ein rein weltlicher Begriff ohne mythologischen Hintergrund ist.

Ich betrachte diese beiden Denkfiguren als die beiden grundlegenden Ausgangspunkte linker und rechter Sozialphilosophie. Die Linken und die Liberalen streben eine Isonomia, eine gleiche Ordnung, eine egalitäre Gesellschaft an, während die Rechten eine Eunomia, eine gute, wenn nicht gar göttliche Ordnung anstreben. Der Unterschied zwischen diesen Perspektiven liegt vor allem in der Betonung des Wortes »göttlich«. Dies ist nicht unbedingt im Sinne eines sprichwörtlichen Gottes zu verstehen, sondern eher im Sinne eines metaphysischen Mutes und Willens, hinter den Schleier der erkennbaren Welt zu blicken. Ein Volk ist mehr als die Summe seiner Individuen. Politik ist mehr als die Beantwortung von Sachfragen. Eine gerechte Ordnung muss immer wieder neu austariert werden – sie ist ein Fass ohne Boden. Eine rechte Ordnung hat dagegen einen archimedischen Punkt: ein skeptisches Menschenbild, den Mut zur Differenzierung, den Sinn für das Volk und das Eigene.

Muss eine gerechte Gesellschaftsordnung also zwangsläufig sozial ungerecht sein? Ja und nein. Natürlich plädiere ich hier nicht als Sozialpatriot für die Akzeptanz großer sozialer Ungleichgewichte. Aber mein Punkt ist folgender: Ich kritisiere die Ungleichheiten nicht, weil sie sozial ungerecht sind, sondern weil sie die (rechte, also gute) Ordnung destabilisieren und zerstören. Eine zu große soziale Kluft zwischen Arm und Reich zerstört die gesellschaftliche Harmonie und den Zusammenhalt, sie verletzt bestimmte rechte Überzeugungen wie das Leistungsdenken. Um es klar zu sagen: Hier geht es um sozialphilosophische Fragen, nicht um konkrete Probleme in der Bundesrepublik 2023. Hier stehen Fragen und Antworten im Raum, wie man grundsätzlich eine gerechte Ordnung aufbauen kann – auf welchen Prämissen, Überzeugungen und Ideen soll sie beruhen? Natürlich haben wir in der BRD keine herrschende rechte Ordnung, und natürlich soll diese mit meinen Argumenten nicht gegen Kritik immunisiert werden. Die Beantwortung der Frage, wie wir leben wollen, ist derzeit eine theoretische. Und die Konsequenz aus diesen Überlegungen ist nun auch: Wenn es keine rechte Ordnung gibt, muss sie geschaffen werden.

Darüber hinaus lässt sich auch auf einer konkreten Ebene jenseits sozialphilosophischer Diskussionen fragen, inwiefern das Schlagwort der sozialen Gerechtigkeit eine Konsequenz der gegenwärtigen Ordnung ist. Soziale Schieflagen sind die Folge ganz konkret bestehender Phänomene wie Kapitalismus und Liberalismus. Die Antwort auf die Frage, inwiefern das, was unter sozialer Gerechtigkeit verstanden wird, auch dann noch aktuell wäre, wenn es die beiden genannten Phänomene nicht mehr gäbe, liegt auf der Hand. Würde die soziale Gerechtigkeit nicht einen Großteil ihrer Aussagekraft und Bedeutung verlieren, wenn eine kapitalistische Ordnung verschwinden würde, die gerade durch ihre innere Logik diese sozialen Ungerechtigkeiten hervorgebracht hat?

Wir sehen: Der von mir vorgeschlagene Perspektivwechsel hilft vor allem, eine eigene rechte Theorie zu entwickeln und nicht in die Fallen zu tappen, die eine pauschale Übernahme linker Ideen birgt. Die Übernahme linker Diskursfiguren ist sinnlos, weil sie eine implizite Akzeptanz und Reproduktion bestehender Muster bedeutet. Beginnen wir also, unsere eigenen sozialphilosophischen Gedanken zu formen.

6 Gedanken zu „Soziale Gerechtigkeit ist kein Wert für die Rechte“

  1. Also wäre die Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen gerechtfertigt, wenn diese nicht dagegen revoltieren, weil sie z. B. durch Medien, Religionen etc. dahingehend indoktriniert wurden, dass das gut und richtig so ist (wie das zeitweise im Mittelalter der Fall war) – sprich: wenn dieses Verhalten nicht die „göttliche“ Ordnung beeinträchtigt? Aktuell besitzt 1 Prozent der Superreichen über die Hälfte der weltweiten Reichtümer, und niemand denkt daran, dagegen vorzugehen. Ist das deshalb eine gute Ordnung?

    1. Hallo Stefanie,
      vielen Dank für deinen Kommentar. Wie ich oben schon geschrieben habe, haben wir keine rechte (=gute) Ordnung. Die Konsequenz daraus ist, dass wir sie anstreben müssen. Mir geht es in meinem Text nicht darum, wie wir das schaffen, sondern welche Grundzüge diese anzustrebende Ordnung haben könnte, wenn nicht sogar müsste, um eben eine rechte und gute Ordnung zu sein.
      Umgekehrt kann man aus solchen Überlegungen aber auch Schlüsse für das Jahr 2023 ziehen. Wenn wir uns in etwa vorstellen können, unter welchen Prämissen eine rechte Ordnung bestehen kann, dann brauchen wir sie nur mit den heutigen Verhältnissen zu vergleichen – und wir sehen, dass wir es mit einer rechten Ordnung sicher nicht zu tun haben. Das zeigt schon die Tatsache der großen sozialen Ungleichheit, auf die Du selbst hingewiesen hast.

  2. Wie kann man auf die Frage „Was ist soziale Gerechtigkeit?“ erst so „Unter sozialer Gerechtigkeit versteht man gesellschaftliche Zustände, die hinsichtlich der relativen Verteilung von Rechten, Chancen und Ressourcen als fair oder gerecht bezeichnet werden können.“ antworten, und dann so ein Fazit „…einer materialistischen Perspektive…“ daraus ziehen? Kein Lexikon zur Hand?

    Von den drei genannten, relativ gleich zu verteilenden Voraussetzungen sind zwei schon mal nicht materiell und die dritte kann man mal materiell, aber ebenso auch immateriell sein. Selbst wenn wir nur die Rechte & Chancen als immateriell betrachten, so reichen nur die Ressourcen für eine „….materialistische Perspektive….“ nicht mehr aus.

    1. Die Unterscheidung materiell/immateriell macht in diesem Fall wenig Sinn, weil es letztlich wieder darum geht, dass die Person „gerecht“ an der materiellen Gesellschaft teilhaben kann – da sind wir wieder auf der materialistischen Ebene. Natürlich sind „Rechte“ und „Chancen“ immateriell, aber es geht um Chancen in der Arbeitswelt, um Chancen in der Bildung, genauso materialisieren sich die Rechte dann in Sozialtransfers usw. usf. – All diese „Immateriellen“ bleiben im materiellen Kontext.

  3. „Liberale und Linke versuchen, wie ich in meinem Buch dargestellt habe, diese Unterschiede so zu minimieren oder gar aufzulösen, dass es in diesem Sinne keine soziale Gerechtigkeit mehr geben kann. Wenn alle gleich viel haben, wenn alle gleich sind, dann gibt es keine soziale Ungerechtigkeit mehr.“

    Es muss schön sein, wenn man sich nie an Wahrheiten orientieren muss, sondern einfach behauptet, was der eigene Bauch gerade so brabbelt.

    2 Minuten googeln und man weiß schon, dass Linke und Liberale rein ideologisch und nicht tatsächlich beschrieben werden. Hier mal ein Auszug, wie Linke und Liberale die Frage beantworten:

    Stefan Liebig: Dimensionen sozialer Gerechtigkeit
    https://web.archive.org/web/20100121164754/http://www.das-parlament.de/2009/47/Beilage/001.html

    Bundesministerium für Arbeit und Soziales
    https://www.sozialpolitik.com/soziale-gerechtigkeit

    Bundeszentrale für politische Bildung
    https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/bpb_TB_134_Soziale_Gerechtigkeit_BF.pdf

  4. Der wesentlichste Punkt wird gar nicht thematisiert: sozial und gerecht sind Widersprüche.

    Gerecht bedeutet, man erhält, was man gibt. Wenn man nichts gibt, ist es gerecht, wenn man nichts erhält.

    Sozial heißt, man erhält etwas, weil man es braucht, obwohl man nichts gegeben hat.

    Das Schlagwort „soziale Gerechtigkeit“ führt zu Verwirrung und vernebelt die Bedeutung der einzelnen Begriffe und lenkt damit Debatten in eine einseitige – linke – Richtung.

    Daher muss man es als Propagandakniff der Linken einordnen und von Grund auf verwerfen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert