26.05.2022, irgendwo in der Ukraine
Monate sind seit dem letzten Eintrag dieses Tagebuches vergangen und nicht nur der Verlag, sondern auch viele seiner Leser und einige meiner Bekannten fragten wiederkehrend, wann es endlich damit weitergeht. Nun, eigentlich steht dem Fortgang kein großes, grundsätzliches Hindernis entgegen, eher die üblichen Kleinigkeiten rund um ein solches Projekt. Es ist ja nicht so, als wäre hier in der Ukraine nichts los. Schließlich hat man vor lauter technischer Daten der NLAW ganz vergessen, dass in der Heimat Menschen auf Berichte warten.
Tatsächlich gibt es vieles zu berichten, von einer Welt irgendwo zwischen Freikorps und Wildem Westen, Krieg und Frieden, internationalen Freiwilligen und nationalen Wahnsinnigen. Wie viele Tage eigentlich schon vergangen sind, habe ich längst vergessen, streckenweise fehlt einem einfach das Zeitgefühl und Tage und Nächte rauschen einfach nur vorbei.
Dass gerade Ostern war, merkte ich erst, als das Freiwilligen-Bataillon, das ich zu diesem Zeitpunkt als Kriegsberichterstatter begleitete, entsprechende Dekorationen aufhing. Ostern, da war ja mal was. Familie in der Heimat, soziale Verpflichtungen, Gepflogenheiten aus einer nicht nur physisch weit entfernten Welt. Schnelle WhatsApp-Nachrichten an die Familie – verschickt von einem mit Kalaschnikows bedecktem Tisch – zur Einhaltung der geringsten sozialen Standards; dann hieß meine Welt wieder Krieg.
Vier, fünf oder vielleicht doch sechs Wochen war ich am Stück wieder in der Ukraine und kehrte nur kurz für einige nicht vermeidbare Verpflichtungen zurück in die Heimat. Wie lange ich nun genau hier bin, könnte ich an den Ein- und Ausreisestempeln in meinem Reisepass nachrecherchieren, aber mir fehlt die Lust, die passenden, übereinander gestapelten Stempel herauszusuchen. Es spielt sowieso keine Rolle. Längst bin ich wieder drüben, schlafe auf Böden irgendwelcher ameisenbauartigen Gebäude oder trinke einen Whiskey-Cola mit den Verrückten aus aller Welt, die sich hier eingefunden haben und nun die Ukraine zwischen Lemberg und den vordersten Schützengräben bevölkern. Geschichten, Biographien, Erlebnisse, die keiner je aufschreiben wird, nicht einmal ich. Tears in the rain.
Hier sieht man keinen der internationalen Journalisten, denn die treiben sich in den Hotels und Bars herum. Was wohl der Spiegel für die Anekdoten der verschwundenen Panzerfäuste, leergespielten Javelin-Computer, des weißen Phosphorbeschusses und den wahrgewordenen Träumen eines jeden russischen Propaganda-Admins bezahlen würde? Vermutlich einiges, aber ich war zu beschäftigt, um mir die Honorarvorschläge der linksliberalen Rotweinbourgeoise einzuholen, und ich wollte mein Postfach sowieso nicht mit solchen Nachrichten verschmutzen.
Denn zwischen dem letzten und diesem Eintrag liegen nicht nur Wochen, ja Monate voller Anekdoten und kaum nachvollziehbarem Wahnsinn. Es sind Wochen mit gefallenen Bekannten und Freunden, einer Nation zwischen Volkskrieg und Bürokratie, einem improvisierten Logistiknetzwerk, Flüchtlingschaos mit nachlassendem Interesse und den noch immer nicht abgeflauten Diskussionen innerhalb der europäischen Rechten um die richtige Positionierung in diesem Krieg. Wochen, in denen in Mariupol die Stellung gehalten wurde, während sie in Lemberg und Kiew die Checkpoints auflösten. Wochen, die sich kaum zusammenfassen und beurteilen lassen, denn der Krieg treibt alles ins Extrem, mit viel Licht und viel Schatten. Dazwischen: Unzählige Graustufen, und nicht nur Stufen, Nuancen von Tönen, nur wahrnehmbar für denjenigen, der nicht zwischen Hotelbuffet, Mittagessen und Barabend ein paar Fotos in sicherer und bequemer Umgebung schießen will, sondern mittendrin ist. Und nicht nur wegen des Interesses des Verlags und der Leserschaft muss weitergeschrieben werden. Vielmehr deshalb, weil einer diese Eindrücke schlichtweg niederschreiben muss.
Was am Ende dieses Tagebuches und vor allem dieses Krieges noch besteht, das weiß niemand. Ein neuer europäischer Mythos? Eine nationale Renaissance? Oder die Dampfwalze des Liberalismus? Wer wird noch leben, um das Ende zu erleben? Ich weiß es nicht, niemand weiß es, aber ich kenne die Gesichter, die Geschichten und die Motivationen der einzigen Menschen, die jetzt noch zählen. Höchste Zeit also, weiterzuschreiben. Wer weiß schließlich, was der Morgen bringt – und wie lange ich für Sie und Euch noch in die Tasten hauen kann. Doch sollte das Schicksal mir (und somit Ihnen und Euch) gnädig sein, erleben wir gemeinsam eine wirklich besondere Geschichte in Wort und Bild. Diese Geschichten gibt es nicht im Spiegel oder der Bild – versprochen.