Was wollen wir säen?

Der Vorfrühling lacht: Es ist Zeit!
Hinter der schwarzen Straße, hinter dem großen Feld
Ich sehe: mein Urgroßvater und Ur-Ur und Ur-Ur
Sie alle folgen der Zeit, wie einem Pflug
(Lina Kostenko, ukrainische Dichterin)

Durch das Fenster mit dem Fliegengitter sehe ich die Menschen auf der Straße. Sie schauen sich um, zeigen auf die Häuser, drehen sich zu den Bäumen und Gärten um. Die Menschen haben keine Gesichter. Vielleicht liegt es an dem Fliegengitter, aber da, wo die Augen, Ohren, Nasen, Münder sein müssten, ist nur eine fleischfarbene Fläche. Mein Zimmer ist gut geheizt, der Thermostat steht auf vier. 

Jetzt, in dieser Sekunde, findet eine Kugel ihr Ziel – irgendwo. Sie bohrt sich ins Herz eines Mannes, der noch eine Sekunde vorher so dachte, fühlte und lebte wie ich. Sein Herz, es schlägt nicht mehr. Die ukrainische Erde holt sich ihre Kinder wieder. 

Die Menschen ohne Gesicht haben auch ihre eigenen Gedanken, Gefühle, Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft. Vielleicht sind auch sie wie der Soldat in der schwarzen Erde. Doch hier, vom Fenster, durch das Fliegengitter, sehe ich nichts davon. Menschen ohne Gesichter starren auf ihr Handy, starren aus dem Fenster, durch die Fliegengitter, sehen nichts, glauben nur, was man ihnen sagt.

Pathos, Begeisterung, das haben sie alle. Für eine Partynacht, ein Konzert, einen Hashtag, der ihre Solidarität bekundet, für ein schönes Stück Gitarrenmusik – nicht für die Häuser ihrer Großväter, Urgroßväter und Ur-Urgroßväter, nicht für die gemeinsame Zeit und nicht für die Heimaterde. Sie sind die Alleingelassenen der Geschichte. Sie selbst haben sich entschieden zu gehen und nie zurückzublicken auf das, was hinter ihnen liegt. Sie gehen weg von mir, hinter die Straße, hinter die Wiesen und Hügel. Ich sehe sie nicht mehr.

Der Wind fegt durch die Straßen, über die steinernen Gesichter der Urgroßväter; er schleift die Festen und er gibt dem Land sein Gesicht; ein Land, das nicht aus unserer Zeit ist, sondern älter, weiter und rauer. Ein Land, eine Zeit und die winzigsten Staubkörner sind die Menschen, die gelegentlich darin wohnen. Ich sehe sie nicht mehr.

Aus der Kolonie, aus der Welt und aus der Heimat aber gibt es kein Entkommen. Sie alle kehren zurück – irgendwann. Mit oder ohne Pathos, mit oder ohne Blei im Herzen. Nach 10.000 Jahren, nach 10.000 Generationen Ur-Urgroßväter, erschaffen und verschwunden in der schwarzen Erde, wird es dies, unsere Heimat, diese Festung und Schicksal, immer noch geben. Ich sehe euch.

(Autor: Volker Zierke)

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