Ganz ohne historisches Fundament ist die woke Interpretation der US-Geschichte nicht. Im Prinzip ist der Gründungsmythos der USA selbst bereits woke.
Die Schizophrenie der Angloamerikaner
Für die Amerikaner fußt ihre nationale Unabhängigkeit bekanntlich auf den aufklärerischen Grundsätzen des Liberalismus und auf dem Mythos einer gewaltsamen, aber gerechtfertigten Revolution gegen die traditionelle Autorität ihrer ethnischen Stammgruppe. Die amerikanische Tradition baut somit auf einer Revolution auf und ist damit von Grund auf paradox, da Tradition und Revolution offensichtliche Gegenpole darstellen. Die Motive des amerikanischen Coup d’état waren letztendlich mehr von den ökonomischen Motiven der dortigen Eliten geprägt, weshalb die Amerikanische Revolution laut Kaufmann als eine bourgeoise Revolution gelten kann.
Diese Gegensätzlichkeit durchzieht das amerikanische Bewusstsein, insbesondere das der bürgerlichen Oberschicht. Universelle Abstraktionen dienten bereits 1776 als offizielle Legitimation für das Aufbegehren gegen die traditionelle Ordnung ihrer direkten Ahnen. Dieses Modell diente im Laufe der Zeit konkurrierenden Eliten, um ihren Machtanspruch mit einer jeweiligen Re-Interpretation der liberalen Revolution zu begründen. Die Zusammengehörigkeit der liberal-humanistischen Rechtsgesellschaft, welche offen für alle freiheitsliebenden Menschen sei, mit der angelsächsischen Volksgruppe als exklusiver Trägerin und stolzer Erbin dieser Gesellschaft entwickelte sich dadurch zunehmend zum Widerspruch. Das ermöglichte eine liberal-aufklärerische Revolutionslinie von antimonarchisch-antibritisch-antiangelsächsisch-antiweiß. Diese kosmopolitische Konklusion einer liberalen Menschheitsrepublik wurde schon von einigen Gründervätern vorweggenommen, wie beispielsweise von Thomas Paine, der bereits 1791 in The Rights of Man postulierte: »The World is my country, all mankind are my brethren, and to do good is my religion.«
Ein existierendes Spannungsverhältnis zwischen dem geistigen Überbau und dem volklichen Bestand der amerikanischen Nation findet sich also bereits zur Zeit der Gründerväter. So zitierte John Adams seinen Kollegen Thomas Jefferson in einem Brief an seine Frau nach der Fertigstellung eines ersten Entwurfs der Verfassung im Jahre 1776 hinsichtlich einer Idee für das erste amerikanische Staatswappen mit den folgenden Worten:
Mr. Jefferson proposed the children of Israel in the wilderness, led by a cloud by day and a pillar of fire by night; and on the other side, Hengist and Horsa, the Saxon chiefs from whom we claim the honour of being descended and whose political principles and form of government we have assumed.
Jefferson differenziert hierbei zwischen einem ideologischen und ethnogenealogischen Erbe der Amerikaner, wobei Letzteres schlicht in der Regierungsform mündet und Ersteres die Wegweisung und Lebensgestaltung der amerikanischen Nation als spirituelles Subjekt definiert. Von Beginn an existierten Überschneidungen zwischen der protestantisch-christlichen Religiosität und liberalen Aufklärungsidealen, deren Abgrenzung nicht gänzlich konsequent gezogen wurden. Mit dem Revolutionskrieg gegen das britische Empire entwickelte sich so eine amerikanische Nationalmythologie, die den Sieg eines Davidvolkes gegen den imperialen Goliath und ihre Westexpansion als Exodus der Israeliten kodifizierte. Gleichnisse von George Washington schmückten amerikanische Haushalte wie orthodoxe Ikonen, und der damalige Präsident der Yale-Universität, Timothy Dwight IV., bezeichnete den Revolutionsführer als »latter-day Joshua leading his flock into the Promised Land«. Der moralisierende Mythos der Amerikaner liegt also nicht primär in einer angelsächsischen Ahnenfigur, wie es für europäische Nationen üblich ist, sondern in der universellen Formel der wandernden Kinder Israels.
Jefferson, der sich zugleich von den Ideen der Romantik inspiriert sah und mit der Vorstellung einer völkisch-nationalen »Yeoman Republic« sympathisierte, steht dabei neben dem radikalliberal-humanistischen Paine, der eine Republik auf »reason alone« bauen wollte. Diese Gegenpole spiegelten sich allerdings in allen Gründervätern wider. Benjamin Franklin stellte sich einerseits 1751 mit den folgenden Worten gegen Migration: »It is hardly necessary to bring in Foreigners to fill up any occasional Vacancy in a Country; for such Vacancy […] will soon be filled by natural Generation. […] And since Detachments of English from Britain sent to America, will have their places of Home so soon supply’d and increase so largely here; why should the Palatine Boors be suffered to swarm into our Settlements, and by herding together establish their Language and Manners to the Exclusion of ours?«
Zwei Jahre später hingegen relativierte er diesen Standpunkt und referenzierte dabei seine eigene Volksgruppe von einem externen, abstrakten Standpunkt aus: »I am not for refusing entirely to admit them into our Colonies: all that seems to be necessary is to distribute them more equally, mix them with the English, establish English Schools where they are now too thick settled.« Thomas Jefferson hielt den Anspruch der Angelsachsen auf Amerika einerseits für exklusiv, da »for themselves they fought, for themselves they conquered, and for themselves alone they have a right to hold«, andererseits interpretierte er die Vereinigten Staaten als »a sanctuary for those whom the misrule of Europe may compel to seek happiness in other climes […] where their subjects will be received as brothers and secured against like oppression by a participation in the right of self-government«.
Zum einen wehrte sich Jefferson gegen die Einwanderung anderer europäischer Migranten, da sie die angloamerikanische Nation fragmentieren würden via »their spirit, [and thereby] warp and bias its direction, and render it a heterogeneous, incoherent, distracted mass«, zum anderen stellte er sich 1800 in klassisch aufklärerischer Pose gegen jeglichen Traditionalismus: »[The] Gothic idea that we are to look backwards instead of forwards […] and to recur to the annals of our ancestors for what is most perfect in government, in religion and in learning, is worthy of those bigots in religion and Government, by whom it has been recommended, and whose purposes it would answer.« Alexander Hamilton sprach sich für ein frühes Modell der Willensnation aus und der Möglichkeit für Europäer, »who would be on a level with the First Citizens«, einzuwandern. Zeitgleich beklagte er die Einbürgerung fremder Volksgruppen als wichtigen Aspekt des Niederganges des Römischen Reiches: »And how terribly was Syracuse scourged by perpetual seditions, when, after the overthrow of the tyrants, a great number of foreigners were suddenly admitted to the rights of citizenship.«
Diese Schizophrenie der frühen angloamerikanischen Eliten, die sich einerseits im Kreise der Ihrigen explizit zur ethnonationalen Identität des angelsächsischen Amerikaners bekannten und andererseits in ihrer bürgerlich-politischen Funktion die Staatsgestaltung auf den universellen Menschheitsideen des Liberalismus mit einer spezifischen Betonung individueller Autonomie begründeten, lässt sich laut Kaufmann mit Ralph Waldo Emersons Theorie des Doppelbewusstseins analysieren. Diese definiert einen Balanceakt zwischen Ethnie und Staatsbürger bzw. race und rights im amerikanischen Bewusstsein und fällt seiner Meinung nach u. a. auf protestantisch-biblische Interpretationen zwischen dem alttestamentarisch-hebräischen Israel und dem neutestamentarisch-universellen Kirchen-Israel zurück, was sich in vorchristlich-europäischen (Anlehnung an die römische Republik, griechische Philosophie etc.) und protestantisch-puritanischen Einflüssen auf die Genese der USA widerspiegele. So würden die frühen Angloamerikaner zwar grundsätzlich noch einen gesunden Ethnozentrismus pflegen, in ihren euphorischen Momenten jedoch in den für ihre Ära typischen vulgärhumanistischen Kosmopolitismus verfallen.
Emerson selbst bezeichnete Amerika zum einen als »the asylum of all nations« und erklärte: »The office of America is to liberate, to abolish kingcraft, priestcraft, caste, monopoly, to pull down gallows, to burn up the bloody statute book, to take in the immigrant, to open the doors of the sea and the fields of the earth.« Zugleich stellte er fest, dass »the inhabitants of the United States, especially of the Northern portion, are descended from the people of England and have inherited the traits of their national character«. Aufgrund mangelnder Reflexionsfähigkeit frühneuzeitlicher Gesellschaften im Hinblick auf soziale Diskurse, bedingt durch geringe schriftliche Dokumentation, sei somit ein amerikanischer Dualismus entstanden, der die gesamte sozialgeschichtliche Entwicklung der USA prägte. Dieser verkörpert das spätestens nach 1945 auch auf Westeuropa ausgeweitete System der liberalen Demokratien, die sich aufgrund ihrer ideologisch-konzeptionellen Widersprüche heutzutage gegen die Normen der einheimischen Bevölkerung und letztendlich gegen die Existenz dieser selbst wenden.
Die ersten Social justice warriors
Auf der explizit liberalen Seite dieses amerikanischen Dualismus gab es schon zur Gründerzeit Auswüchse, die sich von den woken Extremen unserer Zeit kaum unterscheiden. Radikale Liberale wie die Abolitionisten, quasi die Vorläufer heutiger »Black-Lives-Matter«-Antirassisten, verbündeten sich bereits im frühen 19. Jahrhundert mit ethnischen Minderheiten zur politischen Destabilisierung ganzer Bundesstaaten, wie beispielsweise im Falle von William Lloyd Garrison, auf den 1831 der Staat Georgia ein Kopfgeld in Höhe von 5000 Dollar aussetzte, der Patriotismus für eine Sünde hielt und noch im selben Jahr verlautbarte: »My country is my world, my countrymen are mankind.« Oder zum Beispiel den Aktivisten und Theologen David Low Dodge, der sich gegen »the war system of nations«, also gegen die Nation und den Nationalstaat an sich aussprach. Die Wurzeln dieses anarchischen Protoglobalismus finden sich noch vor den Unabhängigkeitskriegen bereits in protestantischen Häresien, wie dem Antinomismus im puritanischen Massachusetts des 17. Jahrhunderts.
Politisch gilt der bereits erwähnte Gründervater Thomas Paine als wegweisender Kopf der radikalliberalen Strömungen. Sein Mantra reduzierte sich auf die Formel: »I believe in the equality of man; and I believe that religious duties consist in doing justice, loving mercy, and endeavoring to make our fellow-creatures happy.« Paine pflegte als typischer Gläubiger der Aufklärung eine betonte Abneigung allen klassischen Religionen gegenüber sowie ein typisch idealistisch-humanistisches Weltbild samt liberal-anarchistischer Anthropologie: »Man, were he not corrupted by governments, is naturally the friend of man, and that human nature is not of itself vicious.«
Paine wies bereits all die typischen Elemente zeitgenössischer Wokeness auf: Egalitarismus, Humanismus, die Vorstellung, etablierte Institutionen seien für alle Ungerechtigkeiten verantwortlich, und Kritik an den Bräuchen der eigenen Volksgruppe. In seiner Tradition stehen Leute wie die frühe Feministin Frances Wright, die sich in den 1820ern für die Legalisierung gemischtrassiger Ehen einsetzte bzw. die gezielte Vermischung von Schwarzen und Weißen forderte. Sie sehnte sich nach dem Tag, an dem die Bevölkerung von Louisiana »entirely mulatto« sein werde, forderte die gezielte Umsiedlung zwischen Nord- und Südstaaten und ging sogar so weit, eine Kommune mit dafür freigekauften Sklaven in Nashoba, Oklahoma, zu gründen. Zu jener Zeit wurde sie dafür noch sozial geächtet.
Vom Great Awakening zum Great Awokening
Der englische konfessionelle Bürgerkrieg war das eingebrannte Trauma der frühen angloamerikanischen Oberschicht, weshalb religiöse Freiheit und Pluralismus von vornherein ein zentrales politisches Motiv darstellten. Die Errichtung einer amerikanischen Nationalkirche sollte verhindert und den Sekten ihre freie Religionsausübung gewährt werden, obgleich Ressentiments gegen Katholiken als einendes Band der protestantischen Gruppen diente. Nichtsdestotrotz ermöglichte der religiöse Pluralismus die Einwanderung sowohl von Katholiken als auch von jüdischen Glaubensgemeinschaften. Der Auftakt zur liberal-humanistischen Säkularisierungsentwicklung des puritanischen Angloprotestantismus findet sich laut Kaufmann im ursprünglich antiaufklärerischen Great Awakening, ausgehend von New England zwischen 1725 und 1825. Afrikanischen Sklaven wurde im Zuge dieser Entwicklung erstmals die Konversion und sogar das Predigen gewährt.
Protestantische Anarchisten wie John Humphrey Noyes predigten eine noch in christliche Theologie verpackte Form von Wokeness. Seine »Perfectionist Doctrine« sah vor, dass die Menschheit ihre Perfektion im Bilde Christi auf Erden erreichen solle. Er glaubte an das messianische Millennium, welches seiner Überzeugung nach mit der Vernichtung der amerikanischen Nation und ihrer Regierung einsetzen würde, welcher er vorwarf, aufgrund ihres rassistischen Sklavensystems auf den Grundsätzen der Bibel herumzutrampeln. Noyes war ironischerweise ein Pionier in sexueller Liberalisierung und predigte die »freie Liebe« bereits in seiner Kommune in Oneida, wofür er des Ehebruchs angeklagt wurde.
Die andauernde Migration in die Vereinigten Staaten und die damit einhergehende Expansion wurden seitens der geistlichen Führung als Bestätigung des amerikanischen Nationalmythos als auserwählter Nation interpretiert. Der Superintendent der Baptist Home Missionary Society, Hubert C. Woods, fragte 1889 pointiert: »In the gathering of all nations and races upon our shores, do we not witness the providential preparation for a second Pentecost that shall usher in the millennial glory?« Die Idee eines neuen »Pentecost«, das nicht nur protestantisch-christliche Sekten, sondern andere Religionen miteinschließen würde, markierte laut Kaufmann den Übergang zur Säkularisierung des Puritanismus.
Von politisch entscheidender Konsequenz war dabei laut Kaufmann der Einfluss des humanistischen Reformjudaismus des deutsch-jüdischen Philosophen und Humanisten Felix Adler an der Cornell-Universität in New York. Dieser stellte sich dem Zionismus entgegen und proklamierte das historische Ziel der Israeliten in der Auflösung ihrer selbst im Zuge der Bekehrung der Menschheit zum Monotheismus. In einer wegweisenden Rede über Race and Religion im Dezember 1878 proklamierte Adler, dass es die Aufgabe der Juden sei, nicht nur die Welt zu bekehren, sondern ihre Existenz als ethnische Gruppe aus der Welt hinwegzuuniversalisieren:
The perpetuity of the Jewish race depends upon the perpetuity of the Jewish religion. So long as there shall be a reason of existence for Judaism, so long the individual Jews will keep apart and will do well to do so. […] When this process [of evangelization] is accomplished […] the individual members of the Jewish race [will] look about them and perceive that there is as great and perhaps greater liberty in religion beyond the pale of their race and will lose their peculiar idiosyncrasies, and their distinctiveness will fade. And eventually, the Jewish race will die.
Das hier messerscharf hervorgehobene Spannungsverhältnis zwischen dem Universalismus des Reformjudentums und dem ursprünglichen Ethnozentrismus der Juden als Gruppe übte großen Einfluss auf die angloprotestantische Elite Amerikas Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts aus, die ein analoges Verhältnis in ihrem Dualismus plagte. Der Überbau lag nun in der liberalen Abstraktion von religiöser Freiheit, nicht länger in der spezifischen Religion selbst, und parallel dazu in der Abstraktion der nationalen Gruppe.
Unter dem Einfluss von Adler, William James sowie des Schriftstellers und Aktivisten Israel Zangwill fingen Leute wie John Dewey an, derlei Interpretation auf ihre eigene Religion zu projizieren und nach dem gleichen Muster mit ihrer eigenen ethnischen Gruppe zu verfahren. Dewey interpretierte die reformjüdische Theologie als humanistische Mission der Angloamerikaner um und erklärte 1893, die angloprotestantische Kirche »[should] universalize itself, and thus pass out of existence«. An den nominell protestantischen Universitäten fanden erste säkular-humanistische Intellektuelle ihren Einflussbereich. Ezra Cornell and Andrew White von der Cornell-Universität strebten beispielsweise eine säkulare, dogmatikfreie Universität an. Dafür ließ Cornell Felix Adler als einen der ersten jüdischen Lehrenden in den 1870ern in seinen Orientstudien pantheistische Standpunkte vertreten. Unscharfe Ideen einer kosmopolitischen, postethnischen Utopie kristallisierten sich heraus, und ein humanistisches Sendungsbewusstsein fing an, die christliche Prägung der protestantischen US-Eliten zu überschreiben. Kaufmann fasst es so zusammen:
Felix Adler and Israel Zangwill, in their universal humanism, had envisioned a melting pot concept of America that influenced the Liberal-Progressive dream of a nation of equal, freely associating individuals bearing the heritage of all mankind. On clear display, therefore, was the resonance of the vision of these Jewish cosmopolitans with the universalizing aspirations of the Anglo-American reformers.
Die Fusion des Reformjudentums und liberalen Protestantismus Ende des 19. Jahrhunderts begründete laut Kaufmann die spätere Dominanz postprotestantischer Humanisten an den Hochschulen der USA und ebenfalls den Einfluss jüdischer säkularer Intellektueller im Zuge des 20. Jahrhunderts, wie später jener intellektuellen Avantgarde der Frankfurter Schule. Die Universität von Chicago beschäftigte in den 1890ern mit als Erste eine Vielzahl nicht angelsächsischer Intellektueller und betonte darin ihre geistige Offenheit. Mit Ankömmlingen wie John Dewey oder W. I. Thomas entwickelte sich eine pluralistisch-relativistische Strömung in den hauseigenen Sozialwissenschaften. An den aufstrebenden Universitäten legte diese Entwicklung den Grundstein für die späteren liberal-progressiven US-Eliten der Bürgerrechtsbewegungsära.
(Autor: Marvin T. Neumann)
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