»Wokeness« als Neoamerikanismus (I): Gegenwart

Der Westen im frühen 21. Jahrhundert ist woke. Was ist das?

Nun, ein Gesellschaftsphänomen, das sich für jedermann anekdotisch darstellen lässt: Über dem deutschen Reichstag wehte während des sogenannten Pride-Monats 2022 die Regenbogenflagge – eine deutsche war nicht zu sehen. In der Bundeshauptstadt Berlin wird nun die erste schwul-lesbische Kita eröffnet, in ihrem Vorstand sitzt ein Pädophilieverfechter, der Mitte der 1990er ein Buch mit dem Titel Die Lust am Kind veröffentlichte. Die Stadt Hannover führt eine Migrantenquote für ihre Behörden ein und fordert die Bewerber auf, ihre nicht-deutsche Herkunft nachzuweisen. Derweil vertuscht die transatlantische Mainstreampresse der BRD den offensichtlich nicht von Russland begangenen Akt der Sprengung der »Nord-Stream«-Pipelines I und II – womit sich die Abhängigkeit des in einer grünen Deindustrialisierung befindlichen Westeuropa von den USA maximal verschärft hat.

Der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte 2021 auf einer LGBT-Konferenz, dass Diversität und Inklusion im Zentrum des Handelns der NATO stünden, und übernahm dabei sogar den »Allies«-Begriff für alle Personen, die sich für die Dominanz der sogenannten LGBTQ-Community und sonstiger Minderheiten einsetzen. Amerikanische Ärzte können die Frage, was eine Frau sei, nicht mehr beantworten, und der »Director for Primary and Trans Care« von Planned Parenthood, Dr. Bhavik Kumar, behauptet, Männer könnten ebenfalls schwanger werden. Das in etwa ist woke.

Spätestens seit der Kandidatur Donald Trumps zur Wahl des US-Präsidenten im Jahr 2015 hat sich das Phänomen der Wokeness exponentialisiert. Es durchzieht alle westlichen Institutionen, von den Universitäten über das Militär und die Kultur- und Unterhaltungsindustrie bis in die Kindergärten. Der Westen erlebt zweifelsohne einen neuen Totalitarismus, ein Erwachen, ein Awokening.

Politische Oppositionelle und Dissidenten streiten nun seit Jahren über die Beschaffenheit dieses woken Totalitarismus. Viele Rechte, vor allem aber liberalkonservative Dissidenten sehen darin in erster Linie den Siegeszug des sogenannten Kulturmarxismus, also die Adaption klassisch-marxistischer Ideologie, insbesondere des Klassenkampfmodells, an kulturpolitische Elemente, welche über die Frankfurter Schule und weiterführende poststrukturalistische Diskurse an den Universitäten heutzutage in Queer Theory, Whiteness Studies usw. gemündet hätten. Der »lange Marsch durch die Institutionen« gilt demnach als gelungen und die totale Dekonstruktion des europäischen Menschen als Masterplan neomarxistischer Agenten und Intellektueller. Der treibende Faktor ist hier also eine linke, postsowjetische Subversion eines sonst neutralen liberalen Westens, begonnen etwa in den 1960ern.

Andere US-interne Dissidenten, vor allem jene im Raum der verschiedenen »Truther«-Szenen, orientieren sich wiederum an anderen Publikationen westlicher Eliten, allen voran an Tragedy and Hope (dt. Tragödie und Hoffnung) von Carroll Quigley sowie bestimmten Papieren der Fabian Society und der Rockefeller Foundation. Personen wie der Radiomoderator Alex Jones oder der Buchautor Jay Dyer sehen die alte Aristokratie des britischen Empire als noch immer herrschende Schattenelite, die sich über verschiedene okkulte Geheimbünde und Freimaurerlogen organisiere und einen technokratischen Weltstaat anstrebe. Spätestens im Jahr 2050 soll demnach eine Weltregierung samt Massenentvölkerungsprogramm und Abschaffung aller Nationalstaaten errichtet sein. Auch hier bleibt der Mythos eines freiheitlichen Amerikanismus als Gegensatz zum orwellschen Globalismus unbefleckt. Der entsprechende Slogan von Alex Jones pointiert diesen Gegensatz: »The answer to 1984 is 1776.«

Dieser (relativ) kurze Aufsatz, basierend auf der hervorragenden Arbeit The Rise and Fall of Anglo-America von Eric P. Kaufmann, soll hingegen verdeutlichen, dass Wokeness vor allem aus der Entfaltung bestimmter Strömungen des angloamerikanischen Liberalismus erwachsen ist, die sich durch spezifische historische und demografische Entwicklungen zur dominierenden Ideologie des amerikanisch geführten Westens entwickelt haben. Und er soll vor allem hervorheben, dass woke Ideen und die damit in Verbindung stehende neurotische Revolutionswut bereits im alten protestantischen Amerika existierten, lange vor der akademischen Arbeit eines Theodor Adornos oder der Geburt eines Karl Marx.

Das woke US-Regime

Am 15. September 2022 fand im Weißen Haus der »United We Stand Summit« statt, auf dem neben dem US-Präsidenten hochrangige Vertreter der amerikanischen Politik, Staatsbeamte, Intelligenzija und Kulturindustrie vertreten waren. Joe Biden erklärte in seiner Eröffnungsrede unter anderem das historische Bild und Selbstverständnis der Vereinigten Staaten der Gegenwart:

Every other nation is based on ethnicity, geography. In America, we’re based on an idea — literally, not figuratively — an idea. ‚We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal […] endowed by the[ir] Creator […]‘ et cetera. We’ve never lived up to that, but we never before walked away from it. We never walked away from it. […] The idea of America is it guarantees that everyone — everyone is treated with dignity and equality. An idea that ensures an inclusive, multi-racial democracy.

Der Justizminister Merrick Garland, also der höchste Rechtsberater der US-Regierung sowie Weisungsgeber für Inlandsgeheimdienste und Rechtsbehörden der Vereinigten Staaten, erzählte auf dem Gipfel, dass das Justizministerium der Vereinigten Staaten in erster Linie geschaffen worden sei, um Afroamerikaner vor sogenannten weißen Suprematisten zu schützen:

I have often said and I say often, that the Justice Department was founded in 1870 with the first principle purpose of protecting the rights of Black Americans under the 13th, 14th, and 15th amendment, and in particular fighting against the Ku Klux Klan and White Supremacists who are trying to deprive them of their right to vote. Now, at 152 years later, the task of confronting hate-fueled violence remains central to the mission of the Justice Department.

Die größte terroristische Gefahr in den USA liege in der noch bestehenden weißen Mehrheitsgesellschaft, von der Teile sich angesichts der demografischen Verlagerung in extremistische Reaktionen stürzen würden. Die Botschaft des Summit war also – zugespitzt –, dass weiße Amerikaner das größte Gefahrenpotenzial für die multiethnisch-liberale Demokratie der USA darstellten und alle anderen Gruppen, ob ethnisch, religiös oder geschlechtlich, sich »united« gegen sie stellen sollten. Das Feindbild der US-Regierung ist der weiße, heterosexuelle, latent gewalttätige Mann, der sich mit der bunten liberalen Welt, in der er bald keine Rolle mehr spielen werde, nicht abfinden könne. Dieses Narrativ wird spätestens seit Donald Trump gepflegt. Der US-General Mark Milley sprach über die Gefahr von »white rage«, zu Deutsch in etwa: »weißer Wut«. Mehrere Whistleblower des FBI haben obendrein offengelegt, dass das Finden bzw. Erfinden weißer Rechtsextremisten politischer Auftrag ist, der alle anderen Geheimdienstbereiche ausbremst. Obgleich keine substanziellen Belege für eine Gefährdung durch inländischen Rechtsterrorismus existieren, arbeiten die ideologischen Staatsapparate der USA ununterbrochen an dieser Propaganda. Warum?

Die von Biden vorgebrachte revisionistische Darstellung der ursprünglichen nationalen Genese der Vereinigten Staaten als multiethnische Manifestation einer liberalen Gesellschaftsutopie ist nämlich ahistorisch und hält keiner genaueren Überprüfung stand. Die britischen Kolonisten Nordamerikas pflegten ein Bewusstsein als englisches Siedlervolk, und die universalistische Weltanschauung des Liberalismus diente ihnen primär als symbolische Abgrenzung und Bestätigung ihrer ethnischen Partikularität, ähnlich wie sich kroatische Katholiken und muslimische Bosniaken jeweils mittels einer universalistisch-monotheistischen Religion voneinander abgrenzten. Auch der Unabhängigkeitskrieg wurde auf eine ethnische Ebene projiziert. So definierten sich die revolutionären Eliten als wahre Angelsachsen und die britische Krone als Erbe französisch-normannischer Invasoren. Die USA repräsentierten demnach eine angelsächsische Freiheitstradition, welche die normannische Installation des Feudalsystems in England beendet habe. Die Beschwörung einer »Anglo-Saxon democracy« durch Thomas Jefferson als primitiver Freiheitskultur in germanischen Wäldern, ehe die Angelsachsen Britannien besiedelten, trug Züge, die heutige Akademiker als völkisch »problematisieren« würden.

Zeitgleich herrschte eine klare Abgrenzung afrikanischen Sklaven und amerikanischen Ureinwohnern gegenüber. Der Amerikaner war weiß im Gegensatz zu den Indianern, er war englisch und protestantisch im Gegensatz zu den katholischen Quebec-Franzosen und spanischen Konquistadoren, und er war liberal-republikanisch im Gegensatz zu den royalistischen Briten. Die frühen Anglo-Amerikaner, Volk wie Eliten, pflegten zweifelsohne ein grundsätzlich rassisches und ethnisches Bewusstsein. Das Einbürgerungsgesetz von 1790 sah entsprechend vor, dass ausschließlich »free white persons of good character« eingebürgert werden konnten, und Benjamin Franklin selbst bewertete noch Italiener und Slawen für »nicht weiß genug«. Das Kriterium der Migration war die Assimilierbarkeit von Einwanderern in die liberal-angloprotestantische Identität, was sich grundsätzlich bis ins späte 19. Jahrhundert hielt. 1776 waren um die 65 Prozent der Amerikaner rein britischer Abstammung, der Rest aus Nordwesteuropa, und 98 Prozent von ihnen waren protestantischer Konfessionszugehörigkeit. Gegenwärtig sind weniger als ein Viertel der US-Amerikaner noch angloprotestantischer Herkunft. Die Entwicklung der USA entspricht damit dem Gegenteil herkömmlicher nationaler Ethnogenese. Warum ist das so? Die Antwort liegt im Liberalismus ihrer Eliten, damals wie heute.

(Autor: Marvin T. Neumann)

Der zweite Teil dieses Beitrags kann hier gelesen werden.

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