»Wokeness« als Neoamerikanismus (III): Bedeutung

Wie kam es zur Verschiebung der US-amerikanischen Selbstwahrnehmung als Volk, und mit welchen Folgen?

Die postprotestantische Moderne

Ende des 19. Jahrhunderts verschob sich die ethnokulturelle Identität der Mehrheitsgesellschaft von anglo-amerikanisch allmählich zu »nur« amerikanisch, da viele weiße US-Bürger keine genaue angelsächsische Abstammungslinie mehr nachverfolgen konnten und der liberale US-Staat qua seiner ideologischen Gestaltung die englische Kulturdominanz nur implizit repräsentierte, ohne eine explizite Synchronisierung mit dem Founding stock anzustreben.

Eine ideologische Verschiebung fand parallel dazu im Wandel der protestantisch-puritanischen zur viktorianisch-humanitären Interpretation amerikanisch-liberaler Ideale statt. In den 1820ern entwickelte sich bereits der »American Subversive Style«, vertreten von Literaten wie Edgar Allan Poe, William James, Walt Whitman, Henry Wadsworth Longfellow oder Herman Melville. Diese protomodernen Intellektuellen prägten eine weitere Phase des amerikanischen Kosmopolitismus und liberalen Individualismus, obgleich sie laut Kaufmann noch den zuvor skizzierten Dualismus aufwiesen. Ein Bruch mit jenem Dualismus zugunsten der liberalen Geisteshaltung fand sich in den »Young Intellectuals« aus Chicago und New York wie beispielsweise Floyd Dell, der sich 1906 gegen den Puritanismus wandte und diesen explizit mit den Angelsachsen gleichsetzte. Diese seien prüde, langweilig und ländlich. Dagegen entstanden eine Begeisterung für die städtischen Bohemiens und eine elitär-künstlerische Vorstellung des bürgerlichen Avantgardismus.

Fremde Volksgruppen wirkten als exotische Inspiration und willkommener Kontrast zum spröden Anglo-Amerikaner. Eine Begeisterung für das Fremde entwickelte sich. Randolph Bourne identifizierte die angelsächsische Kultur mit »maskuliner Dominanz« und hoffte auf den Feminismus als Korrektiv, um die »hard, hierarchical, overorganized« amerikanische Gesellschaft zu einer individuell-künstlerischen zu transformieren. Hutchins Hapgood romantisierte das bereits multikulturelle New York in seinem Roman The Spirit of the Ghetto aus dem Jahr 1902 als lebensechterer Ort im Kontrast zum langweiligen Mittleren Westen oder den von Weißen geprägten Vororten. Debatten, wie genau sich die Zukunft des kosmopolitischen Amerika ausgestalten sollte, diktierten die elitären Diskurse.

Horace M. Kallen erklärte in seinem Essay Democracy Versus the Melting Pot von 1915 die Dominanz der weißen Anglo-Amerikaner für vorüber: »The older America whose voice and spirit were New England, has […] gone beyond recall. […] The older tradition has passed from a life into a memory.« Seine Vision von Amerika trug bereits die Grundidee heutiger Vielfalt. So seien die USA eine »democracy of nationalities, cooperating voluntarily and autonomously through common institutions in the enterprise of self-realization through the perfection of men according to their kind«.

Walter Lippmann verurteilte in Drift and Mastery von 1914 das Konzept »of a folk nation based on the Yeoman Republic«, also eine dem angelsächsischen Volksbestand verpflichtete Staatsgestaltung. Er sprach sich ebenfalls für eine Betonung von Minderheitenrechten aus und artikulierte eine gewisse Paranoia vor der autochthonen Mehrheitsgesellschaft, wie man sie später auch bei Denkern wie Jürgen Habermas finden konnte: »the dogma of majority rule contains within it some sort of deep and destructive confusion«. Randolph Bourne griff diese Ideen 1916 auf und formulierte eine scharfe Kritik sowohl an der weißen amerikanischen Gesellschaft als auch an den europäischen Nationen unter liberal-egalitären Gesichtspunkten: »The Anglo-Saxon element is guilty of what every dominant race is guilty of in every European country: the imposition of its own culture upon the minority peoples. The fact that this imposition has been so mild and, indeed, semiconscious does not alter its quality.«

Ein erstes, explizit liberal-egalitäres Bewusstsein ging mit einem Ressentiment gegen die angelsächsisch-europäischen Vorfahren einher. Argumentations- und Denkmuster, welche heute von sogenannten Antirassisten an den westlichen Universitäten reproduziert werden, finden sich bereits unter der US-Intelligenzija vor der Prohibition. Eine Form der Proto-Wokeness existierte als Mentalität amerikanischer Eliten also bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Doch erst mit den Konsequenzen der Weltkriege und den strukturellen Revolutionen modern-kapitalistischer Systeme zur Globalisierung wurde daraus die im Regenbogen formalisierte Zivilreligion, die uns heute plagt.

Die amerikanische Linke konnte zu dieser Zeit mit progressiven Befreiungsideen größtenteils nichts anfangen. Die Befindlichkeiten der Afroamerikaner, Frauen und Homosexuellen waren hingegen das Hauptinteresse der amerikanischen Liberalen. Die Sozialisten empfanden die Auseinandersetzung mit diesen Gruppen sogar als potenzielles Hindernis für das Anliegen der proletarischen Weltrevolution, insbesondere im Hinblick auf Migrationsfragen. Der deutschstämmige US-Marxist Gerhard Ernest Untermann befürwortete die 1910 auf dem Internationalen Sozialistenkongress verabschiedete Resolution, die eine Beschränkung von asiatischen und afrikanischen Migranten vorsah, mit den Worten: »I am determined that my race shall be supreme in this country and the world.«

Anglo-amerikanische Sozialisten wie Robert Hunter oder Jack London interpretierten marxistische Evolutionstheorien dahingehend, dass die Einwanderung »weniger entwickelter« Volksgruppen den Fortschritt des Sozialismus in den Vereinigten Staaten gefährden könne. Sogar der jüdischstämmige US-Sozialistenführer Victor Berger empfand die Lockerung von Einwanderungsregelungen als eine Gefahr für das sozialistische Projekt in Amerika. Ein Wandel fand erst mit dem Verlust anglo-amerikanischer Parteimitglieder in den 1920ern und einer dadurch notwendig gewordenen Umorientierung statt. Komplett offene Schleusen für arbeitssuchende Migranten lehnten Großteile der US-Linken jedoch bis in die 1960er hinein aus dem Motiv des Schutzes des amerikanischen Arbeiters ab. »LGBTQ-Community«, »Diversity« und »Black Lives Matter« haben ihre thematischen Wurzeln in den ideologischen Präferenzen und dem kosmopolitischen Fetisch des liberalen US-Bürgertums der Jahrhundertwende, weniger im politisch organisierten Proletariat. Kaufmann fasst es in seinem Buch folgend zusammen:

Racial minorities were not as successful as white Americans, but the process of change involved both white and nonwhite groups simultaneously. […] All were swept up in the current of liberal-egalitarian idealism, which began as a trickle in the first decade of the twentieth century and crested in the 1960s. As liberty and equality were refined from the [white Anglo-Saxon] cultural inheritance, these Enlightenment social forces successively turned on their cocoon of Anglo-Saxonism, Protestantism, and finally, Whiteness. Thus multiculturalism and its seemingly contradictory ‚postmodern‘ alter ego are less ‚post‘ modern than radically modern. Multiculturalism expresses this hyper-individuated logic of liberal egalitarianism and in fact has little to do with a communitarian return to ethnicity.

Im Zuge des Zweiten Weltkrieges begünstigte der Versuch der US-Behörden, den europäischen Faschismus theoretisch zu ergründen, die Synthese von marxistischem Antifaschismus und liberalem Progressivismus, womit jene Neue Linke ihr Fundament fand, welche heutige Rechte gern als Urübeltäter auf den »Kulturmarxismus« allein reduzieren. Der Grad an assimilierten Migranten und die Abnahme antisemitischer Haltungen wurden nach dem Krieg als Zeugnis für die Überwindung des angeblich im Nationalsozialismus kulminierten weißen Rassismus angesehen. Je weniger anglo-europäische Amerikaner sich ihrer Ethnie bewusst waren und je mehr nicht weiße Migranten sozialen Aufstieg fanden, desto größer erschien die Distanz der US-Gesellschaft gegenüber dem europäischen Sündenfall des Faschismus.

Karen Sacks reflektierte über ihre Jugend im Long Island der 1950er: »By the time I was an adolescent, Jews were just as white as the next person. Instead of dirty and dangerous races who would destroy U.S. democracy, immigrants became ethnic groups whose children had successfully assimilated into the mainstream and risen to the middle class. In this new myth, Euro-ethnic suburbs like mine became the measure of U.S. democracy’s victory over Nazi racism.«

Mit der Notwendigkeit, ein ideologisch kohärentes Angebot als potenzieller Welthegemon aufzubieten und dabei dem globalrevolutionären Anspruch der Sowjetunion etwas entgegenzusetzen, fiel die angelsächsisch-weiße Partikularität im Rahmen des amerikanischen Liberalismus als mögliche Verbindung zu NS-Ideen endgültig unter den Tisch. Sowjetische Propaganda, die Amerika als rassistische und reaktionäre Nation darstellte, deren angelsächsische Eliten mehr mit dem »Blut-und-Boden«-Konzept des Deutschen Reiches gemeinsam hätten, zwang die liberalen Eliten Amerikas zum Handeln. Der Amerikanismus sollte als besseres Modell für eine wohlhabende, gerechte und freie Weltordnung erscheinen, mehr Freiheit in der Kultur, der Lebensgestaltung und persönlichen Ausdrucksform bieten. Damit wurde der amerikanische Dualismus endgültig überwunden und die liberal-kosmopolitische Theorie des »America is just an idea« zur politischen Norm.

Seither vertreten amerikanische Konservative diesen Ansatz in einer farbenblinden Interpretation, während die amerikanische Linke den inhärenten Egalitäts- und Emanzipationsdrang verkörpert, der sich unserer Tage gegen den letzten Rest europäischer Kultur wendet. Das politische Anliegen weißer Amerikaner und Europäer wirkt für die woken Eliten des Westens somit wie eine unangenehme Erinnerung an jene ethnisch-partikulare Wurzel, die ihrer ideologischen Konzeption des Fortschritts im Wege stand und bei zu großem Einfluss ihr ganzes Imperium zusammenfallen lassen könnte.

Abschließendes

Der Begriff Wokeness selbst bedeutet in der Übersetzung so viel wie »Erwachtsein« und beschreibt damit passend die aufklärerische Essenz des Liberalismus, die sich vom partikularen Resonanzraum ihrer Genese befreit und, noch viel wichtiger, sich aggressiv dagegen wendet. Wokeness ist die Lösung des Konfliktes des amerikanischen Dualismus im Namen des universellen Liberalismus und zuungunsten der Partikularität weißer Völker. Diese kurze Wiedergabe westlich-amerikanischer Geistes- und Gesellschaftsgeschichte aus Kaufmanns Buch soll einen weiteren Orientierungspunkt für die Rechte bieten, gerade in einem Moment, da das US-Imperium offen gegen deutsche Interessen handelt.

Ob man Wokeness zu Deutsch nun also als progressiven Liberalismus, Linksliberalismus, liberal-egalitären Idealismus, humanistischen Kosmopolitismus oder postmodernen Progressivismus umschreibt – diese semantischen Variationen seien gestattet. Die Wurzeln dieser Ideologie liegen jedoch nicht in den Thesen von Marx oder Lenin, mögen die linken Theoretiker auch als Vertreter einer eigenen Denktradition der Aufklärung progressive Elemente schon immer geteilt und insbesondere im Zuge des Zweiten Weltkrieges sich mit liberalen Denkern wechselseitig befruchtet haben.

Für die Ausartung des aufklärerischen Emanzipationsdrangs in antiweiß-queere Wokeness genügte die liberal-angloprotestantische Tradition, ganz ohne ein rotes Gespenst. Dieses stand für einen voreiligen Drang der Aufklärung, welche der vermeintlich trägere, vernunftbasierte und »konservative« Komplementärpart nun selbst überholt hat. Der Sieg des Westens 1989 und das »Ende der Geschichte« ermöglichten die totale Entfaltung des universellen Kerns des Liberalismus als Überbau der globalen US-Hegemonie, die sich eben explizit nicht auf die Dominanz der angelsächsisch-weißen Volksgruppe beruft. Der Marxismus erlebte seine Kulmination hingegen in diversen Experimenten des 20. Jahrhunderts und verließ als solcher bereits mit dem Niedergang des Sowjetimperiums die historische Bühne.

Nominell sozialistische Systeme sind entweder zusammengebrochen oder aber längst in nationalkulturelle Muster gekippt, wie beispielsweise die Volksrepublik China. Die geschichts- und kulturvergessene, neurotische Lifestyle-Linke des US-geführten Westens verkörpert nicht mehr als den Emanzipationsfetisch des gegenwärtigen Liberalismus, sie ist ohne das Konzern-Kapital nicht vorstellbar, dient als exportierbares Regime-change-Mittel und als reine Simulations- und Werbefläche für die Anliegen westlich-technokratischer Eliten. Der woke Liberalismus als späte Ausprägungsform fungiert damit wie ein parasitäres System, das vom ökonomischen Restbestand europäischer bzw. weißer Völker lebt. Wenn man also das woke Phänomen des Westens im frühen 21. Jahrhundert betrachtet und die geistigen und strukturellen Ursprünge über die 1960er hinausgehend heranzieht, erkennt man, dass die Wurzel des Problems viel tiefer liegt als in einer falschen Abbiegung 1968 dank abgehalfterter Intellektueller, Drogen konsumierender Hippies oder sowjetischer Agenten.

Wokeness ist ein Export aus Übersee, und die über die Jahrhunderte entfaltete Dialektik der bürgerlich-angloliberalen Widersprüche wird nun in allen Hegemonialgebieten der USA reproduziert. Der Grund, weshalb Wokeness alle Gruppen und Identitäten außer der des weißen Mannes glorifiziert und organisiert – Schwarze, Übergewichtige, sexuelle Minderheiten, nicht europäische Glaubensgemeinschaften usw. –, liegt nicht darin, dass sich hier ein revolutionäres Ersatzproletariat auf dem Weg zum Kommunismus bietet, sondern weil diese mit Ressentiment und Statusmöglichkeit zu mobilisierenden Gruppen sich als liberal-globalistischer Menschheitsersatz für die naturgegebenen Völker anbieten. Ähnlich, wie die Briten in ihren Kolonien abhängige Minoritäten in der Administration platzierten, ist das woke US-Amerika daran interessiert, Gruppen zu ermächtigen, die von ihrer woken Vision und globalen Dominanz abhängig sind. Und das sind weiße, heteronormative Männer und Frauen sowie die kulturellen Traditionen und historischen Normen Europas nun mal nicht.

Die europäische Rechte muss begreifen, womit sie es zu tun hat. Erst dann erklärt sich, warum nominell konservative Parteien scheinbar jeden linken Mumpitz mittragen – nämlich, weil es gar kein linker Unfug per se ist, sondern getragen und durchzogen von aufklärerisch-liberalen Glaubenssätzen, die auch der amerikafreundliche Liberalkonservative nicht anzurühren vermag. Deshalb brennt sich Wokeness durch jede bürgerliche Institution: weil sie aus demselben Bestand geboren und durch die amerikanische Linse destilliert reimportiert wurde.

Mit den geopolitischen Zuspitzungen der 2020er sollte sich die Rechte also neben außenpolitischen und ökonomischen Überlegungen ebenfalls bewusst machen, als was sich der Überbau unserer Verneinung gestaltet: Wir kämpfen nicht gegen einen kulturellen Neomarxismus, sondern einen globalisierten Neoamerikanismus, dessen Aggressivität mit dem sich beschleunigenden Niedergang des US-Imperiums zunimmt, da eine radikalere Schröpfung seiner europäischen Vasallen mittlerweile notwendig geworden ist.

Der Teil der amerikanischen Rechten, der diesen Umstand begreift und die angloeuropäische Nation des Mittleren Westens gegen das globalistische US-Imperium der Küsten verteidigt, steht dabei sicherlich auf unserer Seite. Der liberalkonservative Establishmentkonservative, der die liberale Abstraktion des Amerikanismus verteidigen will, hingegen nicht. Das gilt für kriegsgeile US-Neocons ebenso wie für bundesdeutsche Libkons, die sich unterm Strich bloß den alten Besatzer zurückwünschen. Die Souveränität Europas und das Überleben seiner Völker und Kulturtraditionen kann nur ohne die USA gelingen – kulturell, geistig, ökonomisch, militärisch wie politisch. Der Preis, sollte dies nicht gelingen, kann neben der materiellen Verarmung der Europäer, ihrer ethnischen Vernichtung und dem Übergang in eine woke Technokratie im schlimmsten Fall voreilig die Zukunft als atomares Schlachtfeld bedeuten. Die Zeichen der Zeit sind erkennbar, wir müssen nur den Mut haben, sie anzusprechen.

(Autor: Marvin T. Neumann)

Der erste und der zweite Teil dieser Artikelserie können hier und hier gelesen werden.

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