Deutschland als mitteleuropäische Macht

Eine Analyse der Idee des vereinten Europas von rechts sowie der eurasischen Raumorientierung Deutschlands

Das klassische Völkerrecht war ein eurozentrisches Recht, das die europäischen Staaten im Zuge ihrer kolonialen Eroberungen auf die ganze Welt ausdehnten. Der Wiener Kongress 1815 konzipierte im Grunde eine klassische Weltordnung, die auf dem Gleichgewicht der großen europäischen Mächte beruhte. Im klassischen europäischen Völkerrecht gab es keine höchste und letzte richterliche Instanz über den europäischen Staaten. Denn es galt hier der Grundsatz der Gleichheit der Souveräne. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zersplitterte allerdings das Konzept des Gleichgewichtes, weil die Entscheidung für den Krieg, die im klassischen Völkerrecht allein Sache des zum Krieg schreitenden Staates gewesen war, zur Angelegenheit der organisierten Völkerrechtsgemeinschaft erklärt wurde. Dies bedeutet: Der auf die außereuropäischen Grenzen ausgeweitete Völkerbund von 1919 leitete einen Vorgang der Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen ein, indem eine überstaatliche Organisation mittels weltweit geltender Regelungen die zwischenstaatlichen Beziehungen regulieren sollte. Da der Völkerbund jedoch ein Teil des Diktates von Versailles war, genoss er bei den besiegten Staaten wie Deutschland kaum Sympathien, weil er den Deutschen aufgrund der überstaatlichen Regelungen zugunsten der Siegermächte die Souveränität raubte.

Der Völkerbund war im Grunde der Grundstein der transatlantischen Weltordnung, die sich später mittels ihrer supranationalen Institutionen wie Weltsicherheitsrat, EU und NATO verfestigte, insbesondere nach dem Zerfall des Ostblockes. Die globale Weltordnung hat angesichts ihrer überstaatlichen Regelungen einen interventionistischen Kurs in der Weltpolitik eingeschlagen, der das Chaos, den Bürgerkrieg und die Flüchtlingswelle in Richtung Europa ausgelöst hat. Denn die globale Weltordnung will sich mittels der Ignoranz der Legitimitätsdifferenzen der Staaten in der Weltpolitik durchsetzen und ihren Maßstab an die durch diverse Wertvorstellungen geprägten Kulturen anlegen. Allerdings stehen hinter diesen global-überstaatlichen Regelungen nicht ein abstrakt-neutraler Akteur, sondern die Finanz- und Waffenkartelle des transatlantischen Blockes; fokussiert allem voran auf die Interessen der Amerikaner. Denn es gibt, so Carl Schmitt, das Völkerrecht als universalistisches Ordnungsprinzip – unabhängig von den tatsächlichen Machtverhältnissen – gar nicht. Dabei konzipierte der Staatsrechtler Schmitt die »völkerrechtliche Großraumordnung« als eine Alternative zur globalen Weltordnung. Die Großraumordnung beruft sich auf das Interventionsverbot und findet unter den heutigen internationalen Verhältnissen die Lösung für das von den Transatlantikern verursachte globale Chaos in einer Re-Ortung des Völkerrechtes – und zwar in einem Ethnopluralismus in sich geordneter und koexistierender Großräume und Interventionssphären.

Die »völkerrechtliche Großraumordnung« genießt innerhalb der globalisierungskritischen Neuen Rechten in Deutschland – zumindest bei jenen, die sie ernstlich studiert und verstanden haben – hohes Ansehen. Dabei gibt es meiner Analyse nach zwei Denkrichtungen:

Der neo-eurasische Flügel besteht erstens auf die Loslösung von der global-transatlantischen Weltordnung, indem er sich der eurasischen Landmasse anschließen will. Zudem versucht der eher europäisch ausgerichtete Flügel zweitens eine Art neues Imperium Romanum zu schaffen, indem er ein geeintes Europa von rechts konzipieren will. Das neue Imperium soll in einigen Konzeptionen auch Russland mit einbeziehen.

Ich halte jedoch beide Denkrichtungen für kritisch. Denn sie können meines Erachtens keine klare Strategie für Deutschlands Zukunft anbieten, sobald Ausnahmezustände in Europa eintreten.

1. Die Ausrichtung nach Osten gibt zwar Deutschland eine neue Perspektive, aber man darf nicht unterschlagen, dass die Orthodoxie – geschichtlich gesehen – dem mitteleuropäischen Kulturraum genauso fremd war wie der Islam. Die russische Orthodoxie wurde von westlicher Seite nicht immer als gleichwertig christlich anerkannt und hatte zudem den Geruch des Mystizismus. Im Krimkrieg 1853–1856 zum Beispiel bestand das westliche Bündnis vorwiegend aus dem anglikanischen Großbritannien und dem katholischen Frankreich, die sich im Konflikt mit Russland an die Seite des muslimischen Osmanischen Reiches gestellt hatten. Dabei wurde von der »halb-christlichen Orthodoxie« der Russen gesprochen – und die russische Antwort auf diese Ressentiments waren eben die ersten Formen der antiwestlichen Eurasien-Idee, die ironischerweise heute die Aufmerksamkeit einiger Neuer Rechter auf sich zieht. Die islamische Welt wurde in Europa immer als eine fremde Sphäre angesehen – jedoch anerkannt! –, während die russische Orthodoxie als entstellte Form von wahrem Christentum und Europa betrachtet wurde. Seit dem Bürgerkrieg in der Ukraine versucht Russland, seinen geopolitischen Kulturraum zurückzuerobern. Die neo-eurasische Weltanschauung der russischen Nationalisten soll darauf abgezielt haben, Europa von der Führungsmacht USA zu befreien und die eigene Identität der Europäer zu stärken. Dabei bleibt dennoch unklar, ob Russland die westeuropäische Landmasse der eurasischen Raumpolitik einverleiben will oder es sich nur um die heldenhafte Loslösung der Westeuropäer von der Führungsmacht der Transatlantiker handeln soll!

2. Das Narrativ »Europa der Vaterländer« kursiert auch in neurechten Kreisen sowie in der AfD. Es hat die Loslösung vom Europa des Marktes – also der EU – anvisiert. Vordenker dieser Idee wollen die Vision eines einigen Europas jenseits kategorisch materialistischer Denkweisen verwirklichen. Dieses bis heute auf rhetorische Kampfansagen gegen die EU reduzierte Projekt blendet jedoch alle Kulturdifferenzen der nord- bzw. südländischen Europäer und die lange Geschichte der innereuropäischen Feindseligkeiten wie die deutsch-französische Erbfeindschaft oder das Kleinhalten der Deutschen durch andere innereuropäische Mächte im 20. Jahrhundert einfach aus und artikuliert Visionen, die zudem den heutigen Machtverhältnissen des Kontinentes widersprechen. Es reicht dabei aus, nur auf die neue revisionistische Haltung der Russen gegenüber den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges (Hitler-Stalin-Pakt) und neue Ansprüche der Polen und Griechen gegen die BRD (Reparationszahlungen) hinzuweisen, die gerade von denjenigen Kräften angesprochen werden, die angeblich die Mitbegründer eines neuen vereinten Europa sein sollen!

Dabei ist auch zu bemerken, dass der Begriff »Europa der Vaterländer« historisch gesehen mit dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle in Verbindung gebracht wird. De Gaulle machte das Schlagwort als Doktrin der französischen Europapolitik der 1960er-Jahre bekannt. Unter historischem Bezug auf das Frankenreich ging er von einem Europa aus, das aus Westdeutschland, Italien, den Beneluxstaaten und Frankreich unter Führung der Franzosen gebildet werden sollte. Insofern ist es kein Zufall, dass die Idee des vereinten Europa von rechts im Grunde von französischen rechten Intellektuellen wie Dominique Venner inspiriert ist. Der Begriff »Europa der Vaterländer«, der später auch vom Rassemblement National übernommen wurde, kennt doch keine europäische Großraumordnung. In Frankreich geht es – wie immer – um den Zentralismus und nicht um eine europäische Mission, welche sich für eine übernationale europäische Idee einsetzt. Und der Grund besteht meines Erachtens darin, dass die Franzosen im Gegensatz zu den Deutschen keine Reichstheologie – wie die Traditionslinie um den Abendlandsbegriff im deutschsprachigen Raum – kennen, um damit die überstaatlichen und raumgebundenen Verhältnisse kultivieren zu können.

In der Bundesrepublik Deutschland hat sich das Politische auf die Innenpolitik reduziert, und zwar auf die innereuropäisch-transatlantischen Verhältnisse angesichts der Entstehung supranationaler Institutionen, während andere Teile des Universums zur Schurkenwelt erklärt worden sind. Die Neuen Rechten haben teilweise das völkerrechtliche Konstrukt als solches unbewusst übernommen, weil die internationale Politik sich bei ihnen oft auf westeuropäische und transatlantische Beziehungen beschränkt.

Hier wird von keinem neuen Alternativmodell zu den zwei oben genannten Denkrichtungen die Rede sein, aber sie sind sicher durch geopolitische Faktoren zu untermauern, um damit ausgewogen und der Realität entsprechend zu wirken. Seit der deutschen Einigung 1871 verfolgten die patriotischen Kräfte ein strategisches Ziel, wonach sie ein von Deutschland dominiertes Mitteleuropa aufzubauen anstrebten. Um sich durchzusetzen, befanden sich die Deutschen immer in Auseinandersetzungen mit Russen, Franzosen und Engländern, welche sich in 20. Jahrhundert mehrmals gegen Deutschland alliierten. Die heutige Tatsache ist, dass Deutschland – wie schon immer – ein Kulturraum und ein wirtschaftlich starkes Land in Mitteleuropa ist, das die bevorstehende eurasische Großraumordnung um Russland mit der in die Krise geratenen anglo-amerikanischen Weltordnung verbindet. Dabei sind Russland und England als ebenbürtige Bündnispartner für Deutschland zu schätzen, während sie in Zukunft sicher mit einem starken Deutschland um die geopolitische Herrschaft über den Osten des »Herzlandes« (Mackinder), und zwar über Osteuropa, ringen würden. Was in diesem europäischen Komplex die Franzosen betrifft, so reicht es, zu sagen, dass Frankreich seit Macron versucht, sich in der Zeit der Globalisierungskrise als eine europäische Macht entkoppelt vom Transatlantikbund zu präsentieren. Macron redet deswegen von einer europäischen Armee und will auch Deutschland in die Machtverteilung der neuen Rolle mit einbeziehen. Gelingt es der kontinentalen EU nicht, sich nach dem Austritt der Briten zu etablieren, so kann man die strategische Allianz der Deutschen und Franzosen in ferner Zukunft ebenfalls für unrealistisch halten.

Dabei ist nicht auszublenden, dass Deutschland als ein potenzieller Partner für die anderen entstehenden Akteure in der Weltpolitik, wie zum Beispiel die schiitisch-iranischen oder buddhistisch-chinesischen Großräume, gilt. Der sogenannte schiitische Halbmond steht weder für den Islamexport der arabisch-sunnitischen Missionierung in Europa (die Finanzierung des Moscheebaus durch Katar und Saudi-Arabien in Deutschland) noch für die Expansionspolitik der Osmanen auf europäischem Boden (die neue, von Erdoğan verursachte Migrationskrise an der türkisch-griechischen Grenze), sondern strebt Unabhängigkeit und Souveränität in seiner eigenen zivilisatorischen Zone im Nahen Osten an. Nicht zu unterschätzen ist ebenfalls der wirtschaftliche Aufstieg in Fernost und vor allem in China, das heute das zweithöchste nominale Bruttoinlandsprodukt der Welt hat. Angesichts der wachsenden Unsicherheitsfaktoren, internationalen Krisen und globalen Herausforderungen (etwa der Corona-Pandemie) kommt der Zusammenarbeit und strategischen Partnerschaft zwischen Deutschland und China große Bedeutung zu.

Deutschland ist das Land der Denker und Dichter und fasziniert viele nichteuropäische Nationen mit seinen kulturellen Errungenschaften. Die Breitenwirkung der deutschen Denker ist längst nicht mehr auf Europa und die USA beschränkt. Carl Schmitts und Martin Heideggers Werke sind beispielsweise mit voller Wucht im Orient und in Asien angekommen. Insofern ist entscheidend, dass die deutschen Neuen Rechten nicht in die islamkritische (damit ist nicht Islamisierungskritik gemeint) und chinafeindliche Rhetorik der Neocons verfallen und damit die Chance für neue geopolitische Bündnisse in dieser turbulenten Zeit verlieren.

(Autor: Dr. Seyed Alireza Mousavi)

Anmerkung der Redaktion: Unser Verlagsblog dient von Zeit zu Zeit auch als Diskussionsplattform verschiedener politischer Strömungen und Positionen. Darunter fallen mitunter auch solche, die der Idee eines »Jungen Europas«, so wie sie unser Verlag vehement vertritt, entgegenstehen. Denn Kritik belebt den Geist! Der Beitrag von Dr. Seyed Alireza Mousavi darf als Aufforderung zu einer solchen Diskussion verstanden werden.

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