Am Freitag, den 3. April 2020, erscheint mit Mykola Sziborskyjs Natiokratie der fünfte Band unserer Theorie-Reihe. Sziborskyjs Werk markiert unsere »Öffnung gen Osten«, lenkt den Blick und das Interesse unserer Leser also auf einen »Frontabschnitt«, der sich von unserem »westlichen« recht deutlich unterscheidet. Apropos Interesse: Viele von Ihnen und Euch stellen sich die Frage, weshalb sie ein Buch bestellen sollten, das sich vornehmlich mit der Ukraine und einer in ihr wirkmächtigen Weltanschauung beschäftigt. Wir wollen darauf antworten – und veröffentlichen daher nachfolgend die von Verlagsleiter Philip Stein verfasste Einleitung zum Buch. Viel Spaß!
Der Deutsche hat, seit er »unfreiwillig« aus der gestaltenden Geschichte ausgeschieden ist, eine zweifelhafte Eigenschaft etabliert und über die Jahrzehnte kultiviert: Er urteilt gerne. Es interessiert ihn, den Deutschen in West wie Ost, ganz gleich ob Altphilologe oder Straßenarbeiter, zumeist wenig, ob sein Urteil gehört wird, gar an Bedeutung gewinnt. Ein deutsches Urteil wird gefällt – schnell, hart, eindeutig in Aussage und Bewertung, immer gültig.
In der politischen Rechten, vor allem seiner um »Bürgerliche« erweiterten Mosaik-Struktur, scheint diese vermeintliche Befähigung zu einem die »Durchschnittsmeinung« überstrahlenden, korrigierenden Urteil einen ganz besonders mitteilungsbedürftigen Kulturträger gefunden zu haben. Es hat dabei den Anschein, dass ein Urteil umso entschlossener gefällt und anschließend verteidigt wird, desto weniger das zu beurteilende Terrain mit der Lebensrealität oder den praktischen Erfahrungen des Beurteilenden gemein hat. Der Verleger Götz Kubitschek stellte kürzlich, sinngemäß, die Frage, ob der Deutsche sich angesichts seiner Nichtigkeit auf dem internationalen Parkett, seiner faktischen Machtlosigkeit und der Unfähigkeit, sein eigenes (internationales) Schicksal selbst zu gestalten, überhaupt zu Fragen der Geopolitik zu Wort melden sollte. Zumindest dann nicht, so Kubitschek weiterspinnend, wenn jenes Urteil von anonymen Zivilisten im gemütlichen, sich munter drehenden Bürostuhl gefällt wird – fern jeder tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten.
Der Jungeuropa Verlag hat dieser »Chefsessel-Mentalität« seit seiner Gründung den Kampf angesagt. Denn wer tatsächlich ein valides, ernstzunehmendes Urteil fällen will über jene, die jenseits des eigenen Horizonts ihr Schicksal in die Hand nehmen, der muss den intensiven kulturellen Austausch kultivieren – und sein Gegenüber hierbei zuvorderst, anders als die linken und linksliberalen Rucksack-Globalisten, aber auch anders als »konservative« und »bürgerliche« Wohlstandstouristen, in seiner volklichen Identität wirklich zu begreifen versuchen. Wer Europa mindestens als einen schützens- und erhaltenswerten Kulturraum, inklusive seiner autochthonen Völker und des ihr innewohnenden Genies, begreift und wirklich ernst nimmt, der weiß um die möglichen fatalen Auswirkungen eines vorschnell gefällten und geäußerten Urteils.
Mit unserer Arbeit, dem Übersetzen und Heben wertvoller fremdsprachiger Schätze, der Organisation erster internationaler Konferenzen und der stetigen Vernetzung mit nonkonformen Akteuren in Ost wie West, haben wir einen ersten Fußabdruck hinterlassen – und den Weg zur konkreten Urteilsfähigkeit beschritten. Unsere Ideen gewinnen an Form – »jungeuropäisch« zu denken, das ist keine Floskel mehr.
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Eigentlich sollte dieses kurze einleitende Kapitel eine prägnante Überschrift tragen: »Über die Revolution«. Doch was hätten wir Deutschen, vor allem wir »Nachwendekinder«, tatsächlich über eine Revolution zu sagen? Nichts – zumindest dann nicht, wenn in einem krisengebeutelten, bisweilen militarisierten Land eine solche große Umwälzung immer noch als »gewaltsamer Akt«, und nicht, wie in unserem Mosaik, als ein »langer komplizierter Prozess« begriffen wird, »wo der Mensch anders werden muss« (Rudi Dutschke). Sich verschärfender politischer, wirtschaftlicher und ethnischer Konflikte zum Trotz, leben wir Deutschen seit mehreren Jahrzehnten in einer Blase, die durch relativen Wohlstand, eingehegte Konflikte und die scheinbare völlige Abwesenheit von Gewalt geprägt ist. Es scheint vor diesem Hintergrund fast verständlich, dass ein Gros unserer Landsleute, unsere gewählten Vertreter ohnehin, mit Unverständnis auf das blicken, was sich im Osten unseres Kontinents vollzieht: der Aufbruch und die Selbstbehauptung junger, vitaler Nationen.
Im Fokus dieser vitalen Erneuerung steht noch immer der ukrainische »Euromaidan«. Er vergegenständlicht die als »Revolution der Würde« bezeichneten Ereignisse rund um die Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union und die im Winter 2013/2014 folgenden Massendemonstrationen samt gewaltsamer Rebellion. Innerhalb der europäischen Rechten herrscht noch immer große Uneinigkeit darüber, ob diese Ereignisse als Revolution oder Regime change bezeichnet und bewertet werden müssen. Begeisterung und Misstrauen stehen sich als verhärtete Fronten gegenüber, ein Mittelweg scheint nicht zu existieren. Ein Urteil war und ist hier wie dort schnell zur Hand. Fakt ist: Die »Revolution der Würde« hat nicht nur der mittelfristigen Osterweiterung der Europäischen Union den Weg geebnet. Zahlreiche ukrainische Nationalisten und ihre vielfältigen Organisationen haben es verstanden, die Phase der politischen Neuordnung für sich zu nutzen – und ihre Position innerhalb der Gesellschaft zu stärken. Die politische Rechte ist zurück.
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Das vorliegende Werk, Mykola Sziborskyjs Natiokratie, ist der weltanschauliche Grundstein dieser ukrainischen Rechten. Die Übersetzung dieser spannenden programmatischen Schrift aus dem Jahr 1935 war für unseren jungen Verlag eine Herkulesaufgabe. Seit September 2017 liegt dieses Manuskript auf unserem Tisch. Ukrainische Freunde hatten es damals empfohlen, nachdem wir nach einem literarischen Schlüssel fragten, um das verstehen zu können, was sich in den Köpfen der Ukrainer dieser Tage vollzieht. Ein junger, engagierter Übersetzer, ein deutscher Student der ukrainischen Sprache, wagte sich im Oktober 2017 für uns an diese Schrift. Er scheiterte – nicht zuletzt aufgrund der »antiquierten« Sprache und zahlreicher längst vergessener Begriffe, die selbst das spätere, erfahrene ukrainische Lektorat vor Probleme stellten. Im März 2018 wagten wir, nach langer Suche eines geeigneten Übersetzers, einen neuen Anlauf. Christina Brock, eine studierte Historikern und Philologin, zog die Übersetzung an sich und arbeitete gemeinsam mit uns sehr intensiv an der Entwicklung und Fertigstellung der vorliegenden Arbeit, die ohne Anmerkungen und ausführlichen Fußnotenapparat an vielen Stellen unverständlich bliebe.
Die von Dr. Mykola Krawtschenko verfasste aktuelle Einführung soll dem deutschen Leser eine Hilfestellung bieten, um die Entstehung dieser Schrift, ihren Verfasser und seine historische Situation besser zu verstehen. Und mehr noch: Sie schlägt den Bogen zu den Ereignissen des Winters 2013/14, an dessen Rebellion Krawtschenko direkt und führend beteiligt war. Der Doktor der Geschichtswissenschaften, der mit Orientyr das erste ukrainische »Veteranen-Verlagshaus« gründete, spricht in seiner Einführung eine Sprache, die vielen von uns fremd ist. Es geht um den tatsächlichen Fall eines politischen Systems, staatliche Gewalt und die Reaktionen darauf, Revolution und Widerstand. Worte und Ereignisse, die für uns Deutsche unverständlich bleiben. Denn unser Weg ist ein anderer, er folgt den Gesetzmäßigkeiten unserer Situation und unserer Gesellschaft. Für uns gilt, dass jedwede »Tag X«-Rhetorik, Revolutionsromantik, also eine stoßartige, gewaltsame und strategisch eindimensionale Politik keine Optionen sind. Dominique Venner markierte diesen Weg, den er selbst beschritt und auf dem er scheiterte, für die westeuropäische Rechte schon in den frühen 1960er Jahren als Sackgasse.
Krawtschenko und Sziborskyj eröffnen uns jedenfalls einen Blick auf die Historie der Ukraine – und auf eine Zukunft, die anhand dieser Historie und ihrer programmatischen Ideen östlich unserer Heimat tatsächlich gestaltet werden könnte. Genau so wollen wir Krawtschenko und Sziborskyj auch verstehen: als Boten einer uns häufig noch fremden, doch gar nicht so fernen Welt, die ihren eigenen, einen anderen Weg zu finden versuchen.
Gleichzeitig markiert die Veröffentlichung dieser Schrift eine Wegmarke: unsere erstmalige »Öffnung« gen Osten. Während dieses Buch erscheint, arbeiten wir im Hintergrund bereits an Werken aus der Türkei, Russland und dem Baltikum. Denn eines ist klar: Wer Europa begreifen will, muss seine Blicke schweifen lassen.
Mykola Sziborskyjs Natiokratie ist nicht nur ein spannendes historisches Dokument, sondern ein elementarer Schlüssel zum Verständnis der heutigen Ukraine und des gesamten Ostens unseres Kontinents.
Der ukrainische Weg in das 21. Jahrhundert – er wird steinig, widersprüchlich, konfliktreich. Wer ihn gerade deshalb verstehen will, wird bei Mykola Sziborskyj fündig.
Dresden, Februar 2020
Das Buch kann hier bestellt werden: »Natiokratie«.
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