Über die Linie Gramsci-Orbán – Márton Békés und der Kampf um Hegemonie in Ungarn

Heute erscheint unser neues Buch Nationaler Block von Márton Békés. Der junge ungarische Publizist und Kulturhistoriker Békés, der u. a. das Magazin Kommentár verantwortet, steht seit vielen Jahren in Kontakt mit unserem Autor Benedikt Kaiser, der wiederum regelmäßig in diesem Leitmedium der ungarischen Rechten veröffentlicht. Es ist nur folgerichtig, dass Kaiser das Vorwort zu dieser Erstübersetzung aus dem Ungarischen geschrieben hat. Wir veröffentlichen es hier kostenfrei als Vorschau und Werbung für das Buch Nationaler Block.

Die deutschsprachige politische Rechte fremdelt mit politischer Theoriearbeit. »Überschätzt« werde diese, so heißt es oftmals in einem frappierend unpolitischen Ton von prominenten Protagonisten. Denn die Wirklichkeit, mithin das Leben als solches, präge die Verhältnisse; es gehe darum, Erfahrungen zu sammeln und Dinge zu fühlen. Es gehe dagegen explizit nicht um »Ideologie« und ihre Reproduktion, also Ausarbeitung und Verbreitung. Viktor Orbán, ungarischer Ministerpräsident seit 2010, kann derlei altväterliche Ratschläge nach einigen Jahrzehnten politischer Synthesearbeit nur belächeln. In einem Gespräch mit dem schweizerischen Wochenmagazin Die Weltwoche wurde er mit jener altkonservativ-naiven Konstante konfrontiert, wonach »die Ideologie« niemals »gegen die Wirklichkeit« gewinnen könne. Orbán lapidar: »Unterschätzen wir nicht die Kraft der Ideologie.« Denn es mag an einem fernen Tag zwar so kommen, »dass am Ende die Wirklichkeit gewinnt«, aber möchte man darauf warten? Orbán möchte das nicht.

Bereits im September 2015, als die übergeordnete Konvergenz der Krisen noch auf sich warten ließ, aber immerhin die Migrationskrise einen vorläufigen Kulminationspunkt erreichte, ließ der ungarische Staatsmann vor CSU-Publikum, das mutmaßlich »ideologiekritisch« positioniert war, keine Zweifel an seinen Zielen: »Die Krise bietet die Chance für eine nationale christliche Ideologie, die Vorherrschaft nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Europa wiederzugewinnen. Diese Situation birgt ein großes Risiko und eine große Gelegenheit: dass wir das Ende des liberalen Geschwätzes erleben.« Mit dieser Passage schreckt Orbán nicht nur Liberale aller Couleur auf, sondern eben auch jene Rechten und »Rechten«, die sich ihrem habituellen Fetisch der »ideologiefreien« Vorgehensweise verschworen haben. Orbán hat vor Jahren erkannt, dass es per se keine ideologiefreie Politik geben kann. Wo man selbst auf »Ideologie« als ideenverbundene Politik verzichtet, wird das Vakuum eben durch andere gefüllt, beispielsweise durch solche, die für »liberales Geschwätz« stehen und deren konkretes Machtpotenzial man heute in Ungarn so erfolgreich begrenzt.

Aber: Bis dahin war es ein langer Weg beschwerlicher meta- und realpolitischer Kärrnerarbeit. Orbán und sein Fidesz, gegründet im März 1988 als Bund junger Demokraten, fingen an als Freundeskreis gegen die Unterdrückung eines autoritär-linken Regimes. Dass »die jungen Leute clevere PR-Arbeit betrieben«, die ihrer Zeit voraus war, erschien selbst linksliberalen Beobachtern als evidenter Startvorteil. »Viktor Orbán, aus einer Arbeiterfamilie stammend und ein guter Volksredner«, versammelte dynamische Getreue um sich, die der Kleptokratie der Altkommunisten couragiert den Kampf ansagten: »Frech traten sie gegen die Alten, Karrieristen und Wendehälse an, redeten weniger verstiegen und klarer als die Intellektuellen, trugen Jeans und Turnschuhe im Parlament und verzichteten auf lächerliches Politikergebaren. Wenn Orbán dem Ministerpräsidenten József Antall lächelnd zurief: ›Sie lügen!‹, traf er den Ton, auf den die Generation der in den 60er- und 70er-Jahren geborenen Ungarn seit langem gewartet hatte.« Orbán bestätigte damit nicht nur Lenins Allgemeinplatz – konkrete Probleme müssen konkret benannt werden –, sondern auch Ernst Jüngers Sentenz vom Bedürfnis des Volkes, anhand »anschaulicher und nicht begrifflicher Wahrheiten« aufgeklärt zu werden, sowie die ewig gültige Maxime für Fundamentaloppositionelle, kämpferisch-heiter (also überzeugt von sich selbst) aufzutreten statt devot-anpasserisch (also latent opportunistisch). Dies ist Teil des Orbán-Programmes im Besonderen und der ungarischen Rechten im Allgemeinen seit nunmehr 35 Jahren.

Das vorliegende Buch von Márton Békés beschreibt diesen Weg und bettet ihn ein: Es ist unverschleiert parteiisch. Békés schafft als Parteigänger der ungarischen konservativen Hegemoniewende Verständnis für das, was einer im Vergleich noch recht erfolglosen deutschsprachigen Rechten oftmals verschlossen bleiben muss. Békés, 1983 in Szombathely (dt. Steinamanger) an der Grenze zu Österreich geboren, ist aber nicht nur Analyst der »Orbán-Ära« (Werner Patzelt). Als Chefredakteur der ästhetisch und inhaltlich so anspruchsvollen wie wertvollen »neurechten« Zeitschrift Kommentár und als Autor zahlreicher viel beachteter Bücher ist er selbst Teil des andauernden Ringens um die geistig-kulturelle und politische Hegemonie in Ungarn. Der promovierte Historiker und Familienvater, Kenner der deutschen politischen Literatur, Tradition und Sprache, ist zudem Forschungsdirektor des Museums »Haus des Terrors«, in dem geschichtspolitische Leitplanken für die ungarische Gesellschaft aufgestellt werden. Kurz: Márton Békés ist auf vielfältige Weise ein »Ideologieproduzent«, aber das ist nicht negativ zu deuten, sondern im besten Sinne zu verstehen. Er ist ein Autor und Denker, der inhaltlich und strategisch gleichermaßen wegweisend aktiv ist und Wissen vermittelt wie nur wenig andere. Auch aus diesem Grund war es folgerichtig, ihn seitens des Jungeuropa Verlages der deutschsprachigen Leserschaft bekannt zu machen.

Wie gelang es Orbán, den von ihm 2014 projektierten »illiberalen neuen Staat auf nationaler Grundlage« aufzubauen? Weshalb hat der Politikwissenschaftler Werner Patzelt recht, wenn er schreibt, es gebe in Ungarn »keine mediale Dominanz der Linken mehr, in Deutschland hingegen sehr wohl«? Wie funktioniert das »System der Nationalen Zusammenarbeit«, und weshalb basiert es, in Anlehnung an Antonio Gramsci, auf einem neuen, sich formierenden und verändernden »historischen Block«? Békés beantwortet diese und viele weitere Fragen, die sich dem deutschen Orbán- und Ungarninteressierten zwangsläufig stellen.

Bemerkenswert am ungarischen Weg zum »nationalen Block« an der Macht ist (mindestens) zweierlei:

Erstens müssen die Voraussetzungen ins Visier genommen werden, mit denen Orbáns Mannschaft zu arbeiten hatte. Patzelt weist darauf hin, dass Orbáns Vorgängerregierungen – Sozialdemokraten und Liberale aller Schattierung – eine explizit »neoliberale Politik« betrieben. Diese zog durch das »Magyarenland eine Schneise der Zerstörung sozialstaatlicher Sicherheit«, weshalb sich die ungarische Rechte unter Orbán als »etatistisch-sozialprotektionistische Rechte« ausrichtet. Das reichte, verkürzt gesagt, 1998 für die ersten vier Regierungsjahre. Doch Wahlerfolge allein markieren keine »Wende«; sie sind nicht die Ursache einer solchen, sondern eher ihr Abschluss. Hegemonie wird nicht durch Wahlergebnisse hergestellt, Wahlergebnisse sind die Folge von Hegemonie. Diese Einsicht nahm sich Orbán zu Herzen, nachdem er sich, so Patzelt, zwischen 1998 und 2002 in eine »linksliberale Medienhegemonie hineingestellt« fand. Die erste Orbán-Regierung musste in einer »Medienumgebung agieren, die sich ihr gegenüber nicht nur kritisch, sondern auch gegnerisch verhielt«. Das geballte Auftreten der nicht rechten »Zivilgesellschaft« sorgte im Verbund mit anderen politischen Prozessen dazu, dass Orbán 2002 in die Reihen der Opposition heimkehren musste.

Zweitens ist hervorzuheben, wie Orbán diese kurze Delle in seiner Karriere verarbeitete: Denn zurück in die politische Arena »kam er mit der Absicht, den Fidesz zu einer solchen Partei umzugestalten, die sich dicht mit der ungarischen Zivilgesellschaft vernetzen, den vorpolitischen Raum erobern und auf diese Weise die Grundlage künftiger Wahlerfolge schaffen würde«, wie Patzelt die Motivation für die Veränderung der 2002 erfolgten Schwerpunktverlegung auf vorpolitische – das heißt metapolitische – Arbeit beschrieb. Orbán erlebte an sich und den Seinen selbst, dass Regierungsverantwortung keine Garantie dafür geben kann, das Land nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Denn selbst wenn es einer ehedem oppositionellen Partei gelingt, »die Spitze eines oder mehrerer dominanter Apparate in ihrer formalen Hierarchie zu kontrollieren, heißt das noch nicht, dass sie damit auch wirklich die Knotenpunkte der realen Macht kontrolliert«, wie Gramscis kritischer Schüler Nicos Poulantzas zeitlos vor parlamentspolitischen Heilserwartungen warnte. Diese Einsicht verinnerlichte Orbán; Békés’ Buch legt davon Zeugnis ab.

Wie groß der Einfluss von an Gramsci geschulten Vordenkern auf Orbán wirklich ist, kann nur dieser selbst beantworten. Die Anzeichen verdichten sich indes, dass der ungarische Ministerpräsident zumindest mit den Grundrissen des gewaltigen Gramsci-Kosmos vertraut ist. In einer wegweisenden Rede, die Orbán Ende August 2023 auf einer Konferenz am Balaton (Plattensee) hielt, sprach er jedenfalls über den Vorrang kultureller Hegemoniekämpfe im politischen Ringen. Macht herzustellen und sie konsensfähig auszugestalten verlaufe primär über geistig-kulturelle Pfade. Denn wer erst einmal in der Lage sei, seine Inhalte, Begriffe und Positionen zu »setzen« (bzw. durchzusetzen), werde »früher oder später« auch »institutionelle Macht« erlangen. Orbán schloss diese Passage wörtlich mit: »Das ist Gramsci!«

Es ist zu hoffen, dass viele Multiplikatoren in Deutschland derlei lesen und verstehen: Zunächst kommen die Ideen, die zirkulieren müssen, anschließend kommt die Aktion, also die Handlung, um diese Ideen zu verbreiten, schließlich die Wahlentscheidung für oder gegen eine Partei, hernach der Wahlerfolg und die Regierungsbildung – was freilich wiederum zur Folge hat, dass der kontinuierliche, nie abgeschlossene Kampf um Hegemonie nicht endet, sondern unter den neuen praktischen Machtverhältnissen andere Formen annimmt.

Das Buch Nationaler Block, das die ungarische Lage anschaulich zu einer ersten Lagebeschreibung verdichtet, ist damit nicht nur eine Skizze der konservativen Politikkehre in Ungarn. Es ist als Lehrbuch auch ein kleiner Baustein im großen Aufbauwerk alternativer Politik in und für Deutschland. Denn bei allen markanten und vielgestaltigen Unterschieden zwischen unseren Ländern und bei allem Realismus darüber, dass der ungarische Weg keine paradiesischen Zustände anbieten kann, sondern ein realpolitisches Maximum unter den herrschenden EU-Verhältnissen darstellt, gilt es jene allgemeingültigen Lehren zu ziehen, die nötig sind, um das Zusammenspiel aus eigener Real- und Metapolitik zu verbessern. »Früher«, so erklärte es Viktor Orbán, »dachten wir, dass Europa unsere Zukunft ist. Heute wissen wir, dass wir die Zukunft Europas sind.« Und dazu kann auch hierzulande jeder sein eigenes Scherflein beitragen.

Hinweis der Redaktion: In der hier vorliegenden Onlineversion fehlen die vom Autor im Buch gesetzten Fußnoten. Eine PDF-Version mit Fußnoten kann hier gelesen werden.

(Autor: Benedikt Kaiser)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert