Zur Diskussion gestellt: Das eurasische Zeitalter und seine neue Zivilisation

Der folgende Kurzbeitrag ist ein Auszug aus der Rede des Vorsitzenden der Patriotischen Partei der Türkei, Vatan Partisi, auf dem Welt-Parteien-Kongress in Peking/China 2017. Die nationalsouveränistische, laizistische Partei ist in der Türkei die Partei der nationalen Intelligenz, die sich gegen Islamisierung und Verwestlichung, EU-Beitritt und NATO-Mitgliedschaft stellt. Für Jungeuropa, einen Verlag, der sowohl Kontakte zu Anhängern eurasischer Ideen als auch zu expliziten Kritikern wie beispielsweise ukrainischen Nationalen pflegt, ist die Gruppe daher besonders interessant. Man pflegt enge Kontakte nach Rußland, insbesondere zu Alexander Dugin, aber auch nach Syrien oder China (vgl. einführend Benedikt Kaiser: »Dugin in Ankara«, Sezession 75). Im Umfeld der Vatan-Bewegung wird deutlich, daß Deutschland und Europa oftmals stark fokussiert auf Entwicklungen innerhalb ihrer unmittelbaren Umgebung sind, dabei aber ausblenden, daß sich umwälzende Prozesse ankündigen, in denen nicht (mehr) Europa oder »der Westen«, sondern China oder Indien die wesentlichen Akteure der Weltpolitik werden. In diesem Sinne ist der Vortrag Doğu Perinçeks als Diskussionsanstoß über Geopolitik im 21. Jahrhundert zu verstehen. Wir danken der Vatan Partei für die Abdruckerlaubnis.

Das eurasische Zeitalter und seine neue Zivilisation
von Doğu Perinçek

Eine neue Welt entsteht. Unter den Gründern dieser neuen Welt stechen drei (Wirk-)Zentren hervor:

  • im Militärischen: Westasien, repräsentiert durch die Türkei, Rußland, Iran, Syrien und den Irak.
  • im Ökonomischen: Asien als Dynamo der Weltwirtschaft, repräsentiert durch China und Indien.
  • im Politischen: das sich dem Atlantischen System zunehmend widersetzende Europa, repräsentiert durch Deutschland und Frankreich.

Es läßt sich der Aufstieg Eurasiens und das Ende des Atlantischen Zeitalters konstatieren. Zur Debatte steht die Frage: Ist der Aufstieg Eurasiens nur ein Führungswechsel innerhalb des imperialistisch-kapitalistischen Lagers oder die Geburt einer »neuen Zivilisation«?

Es ist bekannt, daß der zeitgenössische Kapitalismus sich in verschiedenen Ländern stark unterschiedlich entwickelt. Es gibt Beispiele von Ländern, die, von weit hinten gestartet, andere Länder, die weit vor ihnen waren, eingeholt haben.

Die kapitalistische Welt erlebte die maritime Kolonisation durch Portugal und Spanien, die niederländische, britische und zuletzt US-amerikanische Dominanz.

Das Vergangene betrachtend der Ansicht zu sein, alle bevorstehenden Ereignisse werden nur Wiederholungen sein, ist eine reaktionäre Starrheit. Da sind diejenigen, die im Aufstieg Chinas und Indiens dieselbe Entwicklung erwarten (wie in früheren innerkapitalistischen Führungswechseln). Bestätigt das, was wir derzeit erleben, diese Erwartungen?

Können China, das 39 Prozent des weltweiten Wirtschaftswachstums beisteuert, und Indien, das 19 Prozent des weltweiten Wirtschaftswachstums beisteuert, eine neue USA werden?

Nein: China und Indien können keine neue USA werden. Zwei »neue USA« mit 1,5 bzw. 1 Milliarden Einwohnern würde die Welt nicht verkraften. Das Problem ist umfassender: Weil die Menschheit mit Widersprüchen konfrontiert ist, die in den vorgegebenen Grenzen der Logik des Kapitalismus, des Privateigentums, des privaten Profits und Egoismus nicht zu lösen sind. Der Kapitalismus durchlöchert das Dach der Welt. Er zerstört nicht nur die Umwelt, sondern auch den Menschen selbst.

Der mafiöse imperialistische Kapitalismus hat auch in unserer Zeit nicht die Möglichkeiten und Fähigkeiten, die Widersprüche zwischen der Natur und dem Menschen zu überwinden. Wir befinden uns daher wohl am Ende dieses Systems. Unter diesen Umständen ist das kapitalistische System zuerst einmal für aufstrebende Ökonomien verschlossen. Jede sich entwickelnde Gesellschaft kann sich nur durch Belastung und Überwindung der kapitalistischen Grenzen einen Lebensraum schaffen. Daher befinden sich starke Entwicklungsländer wie China und Indien beim Überwinden des (westlichen) Kapitalismus in einer Vorreiterstellung für die Menschheit.

Die Gesellschaftsstruktur der beiden aufstrebenden asiatischen Ökonomien und ihre weltweit aufgebauten Beziehungen deuten nicht auf eine neue USA, sondern auf den »Entwicklung-durch Teilen«-Pfad hin. China und Indien schreiten nicht auf dem Pfad des Krieges voran, sondern folgen dem Pfad der Neuen Seidenstraße.

Die Präsentation Xi Jinpings als »mächtigster Führer nach Mao« in der Weltöffentlichkeit beabsichtigt die Absicherung dieses Weges. Die Führung in China hat erkannt, daß die neuen Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht explodieren dürfen. Wenn im Inneren keine neue Großbourgeoisie entsteht, wird es auch keine Hegemonie nach außen geben.

Auch Indien steht in einer volksdemokratischen, volksverbundenen Tradition und kann daher nicht ohne weiteres zu einem imperialistischen Land avancieren.

Die heutigen Geschehnisse sind nicht der Wechsel der Führungsnation innerhalb des imperialistisch-kapitalistischen Systems, sondern die Wendung der Welt hin zu einer neuen Zivilisation.

Das grundlegende Programm der neuen Zivilisation beinhaltet Produktion und Entwicklung durch Teilen. Diese Zivilisation stützt sich nicht auf privaten Profit, Individualismus, mafiösen Kapitalismus, Kolonisierung und Hegemonie.

Die Neue Zivilisation hingegen entwickelt sich in Richtung unabhängiger souveräner Staaten, einer produktiven (realen) Wirtschaft, Volksdemokratien, einer Gewichtung auf das Gemeinwohl, auf Weltgewandtheit/Laizismus, auf Revolutionäres.

Die Welt ist damit in das asiatische Zeitalter eingetreten. Das Atlantische System ist im Niedergang begriffen und von Asien steigt eine neue Zivilisation empor. Mit Anlauf: Denn das asiatische Zeitalter weist ein mindestens einhundertjähriges Erbe auf. Die Revolution Rußlands, die demokratischen Revolutionen der Türkei, des Iran und Chinas oder auch der Kampf Indiens gegen den Kolonialismus waren die Vorboten des Asiatischen Zeitalters zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Zentrum der Umwälzungen war nicht mehr der Westen, sondern der Osten.

Lassen Sie uns einmal auf das 20. Jahrhundert als Aufstand gegen den Westen zurückschauen: An Beispielen in Asien und Afrika sehen wir Kriege und Siege gegen den Kolonialismus; so gehört etwa der Aufstand Südamerikas gegen die Hegemonie Nordamerikas zu den Ereignissen des hinter uns liegenden revolutionären Jahrhunderts.

Aus diesem Blickwinkel (jenseits des Eurozentrismus) versteht man Lenins Perspektive besser, die sich in seinem Slogan »revolutionärer Osten, reaktionärer Westen« ausdrückte. Damit hängt zusammen: Die Ideale der sechs Pfeile der Atatürk-Revolution; die drei Volksideale Sun Yatsens und Maos Revolution; die Unabhängigkeits- und volksdemokratischen Ideale Gandhis in Indien und Cinnahs in Pakistan; die beispielsweise in Vietnam geführten Befreiungskriege und die aus den Revolutionen gewonnenen Erfahrungen; die nationale und demokratische Ausrichtung Nassers in der arabischen Welt; die von Bolivar bis Fidel Castro reichenden Kämpfe in Lateinamerika usw. usf. Es ist dies ein Erbe, das den ersten historischen Schatz der neuen Zivilisation zusammenfaßt, die wie folgt zu charakterisieren ist:

  • Die neue Zivilisation ist die Zivilisation der nationalen demokratischen Revolutionen.
  • Die neue Zivilisation stellt dem Individualismus eine auf die Gemeinschaft gerichtete Orientierung entgegen.
  • Die neue Zivilisation forciert anstelle des individuellenProfits den gesamtgesellschaftlichenProfit.
  • Die neue Zivilisation ist eine durch reale Arbeit geschaffene Produktionszivilisation.
  • Die neue Zivilisation baut auf einer Mischwirtschaft auf, die öffentliche Führung und private Investitionen – stets gemessen am Vorteil für das gesamte Volk – umfaßt.
  • Die neue Zivilisation ist gegen religiösen oder konfessionellen Fanatismus, gegen ethnischen Separatismus und gegen den Terrorismus als Handlanger des Imperialismus. Aus dieser Perspektive ist sie weltgewandt, laizistisch und friedlich – sowohl in der Heimat als auch auf der Welt.
  • Die neue Zivilisation schafft entgegen dem Hegemonialismus des Imperialismus als jüngstem Stadium des Kapitalismus, auf der Basis von Unabhängigkeit, Gleichheit und des gegenseitigen Nutzens der Staaten ein möglichst friedliches Weltklima.
  • Die niedergehende Atlantische Zivilisation wuchs auf der Basis von Ausbeutung, Beschlagnahmung, Plünderung und der waffenmäßigen Überlegenheit einiger großer Staaten. Doch die neue Zivilisation wächst entlang des Leitbilds Entwicklung-durch-Teilen.

Im Grunde erlebt die moderne Welt ihre zweite große Welle der Gründung durch demokratische Revolutionen: Die erste Welle kam durch Vorschreiten der englischen, amerikanischen und französischen Revolutionen im 17. und 18. Jahrhundert. Das 20. und 21. Jahrhundert wurden Zeugen der demokratischen Revolutionen Asiens, Afrikas und der lateinamerikanischen Welt.

Man kann die These äußern: Die Armen und Unterdrückten von gestern sind die sich entwickelnden Länder von heute. Oder: Die neue Zivilisation wird durch die Unterdrückten und Ausgebeuteten von gestern begründet.

Aus diesem Grund wird die neue Zivilisation nicht durch diejenigen, die auf der Seite des westlichen Imperialismus stehen, forciert, sondern von denen, die sich gegen ebendiese souveränitätsfeindlichen Ideologie auflehnen.

Von nun an sind »Demokratie und Frieden« die durch nationale demokratische Revolutionen erbrachten »Demokratie und Frieden«. Das Eurasische Zeitalter ist angebrochen.

Doğu Perinçek, Parteivorsitzender der Vatan Partisi

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