Der Tornado über Europa

Der Tornado ist ein zweistrahliges Mehrzweckkampfflugzeug, das von der Panavia GmbH hergestellt wurde, einem Konsortium aus Unternehmen in Deutschland, Großbritannien und Italien. Seit den 1980ern ist dieser Jet auch bei der deutschen Luftwaffe im Dienst, neben einer Jagdbomber- und Aufklärer-Variante verfügte die Bundeswehr zeitweise auch über ein Muster, das mittels elektronischer Kampfmittel feindliche Radar- und Flugabwehrstellungen identifizieren konnte. Zur Bekämpfung ist diese Variante mit Raketen des Typs AGM-88 HARM (High-speed Anti-Radiation Missile) ausgerüstet. Das Jagdbomber-Geschwader 32 der Luftwaffe flog als einziger Verband der Bundeswehr die Tornados der Ausführung ECR. 2013 wurde das Geschwader aufgelöst. 

Wir stehen vor dem Zaun. Irgendwo in der bayerisch-schwäbischen Pampa. Lagerlechfeld, südlich von Augsburg. Heimat des liebevoll »Jabo« genannten Jagdbomber-Geschwaders 32. »Siehst du was?«, fragt der Vater. »Nein.« Der Himmel ist wolkenverzogen, gerade eben zwang uns ein feiner Nieselregen noch das Dachfenster des roten Audi 80 zu schließen. Jetzt gucken wir wieder aus der Luke, auf der Lehne des Beifahrersitzes balancierend. »Es wäre jetzt aber langsam Zeit«, meint der Vater und schaut auf die Breitling-Uhr an seinem Handgelenk. Deutsche Pünktlichkeit.

Genau eine Stunde nach dem Start kehrt die Alarmrotte zurück, zwei Kampfflugzeuge, die rund um die Uhr Bereitschaft für den Ernstfall haben. Zuerst sehen wir die Landelichter durch die grauen Wolken, zwei pro Maschine, eines links, eines rechts unter den Flügeln, dort wo das Fahrwerk aus dem Rumpf der Maschine fährt. Langsam schlingern die beiden Tornados Richtung Landebahn. Es sind nämlich Tornados, kein Zweifel, die Alarmrotte von vor einer Stunde, an der Heckflosse das rote Wappen des Jabos 32, ein stürzender Adler mit einer Bombe in den Fängen. Und tatsächlich: Auch diese beiden ECR-Tornados hier verfügen über jeweils zwei weiß leuchtende HARM-Raketen unter dem Rumpf. Gespannt folgen unsere Augen den grauen Flugzeugen, bis sie direkt über uns sind, eine Sekunde später setzen sie auf das Flugfeld auf. Schubumkehr, die Triebwerke donnern noch einmal. Mit den Fingern in den Ohren hören wir weniger, als dass wir die Kraft dahinter spüren. Am Ende der Runway drehen die Flieger ein und kehren zu den Sheltern zurück, wo sie für einen erneuten Einsatz fertiggemacht werden. Wir beobachten alles mit unseren Ferngläsern. »Sieht du das? Der war im Ausland!« Tatsächlich. Auf dem Lufteinlass, gleich hinter dem Cockpit, prangt ein blaues Rechteck, darin eine graue Eins. Einsatzgeschwader 1.

Es waren vier ECR-Tornados des Einsatzgeschwaders 1, die am 24. März 1999 von Italien aus den ersten Kampfeinsatz der Luftwaffe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchführten. Die Bundeswehr-Jets drangen in den serbischen Luftraum ein und taten ihr Werk. 

Das »E« in EU wurde damit zur Makulatur. Ja, der Angreifer war in diesem Fall die NATO, nicht die damals noch im Werden begriffene Europäische Union, aber das änderte nichts daran, dass die »Operation Allied Force« ein von weiten Teilen Europas getragener Konflikt war. Das »E« in Europa ist vorher schon nicht unbedingt Ausdruck von Idealismus gewesen (siehe dazu den darauffolgenden Buchstaben in EWG) und beruft sich damit auf eine lange Tradition gescheiterter Träume; die Linie verläuft vom Versäumnis des Zwischenkriegseuropas, eine europäische Idee auf die Beine zu stellen, bis hin zur Unfähigkeit des Post-Kalter-Krieg-Europa, die geopolitische Dichotomie zwischen Washington und Moskau aufzulösen. Über die Stationen »Kosovo-Krieg« und »Ukraine-Krieg« offenbart sich die große europäische Unfähigkeit, in eigenen Räumen zu denken. Sagt man »Europa«, schließt man damit andere aus oder meint eigentlich damit alles, was heute aus Übersee kommt. Denkt man Europa, dann fragt man sich, »Wie nur?«. Fühlt man Europa, ist man weltfremder Künstler. 

Der eigene Raum, der Europa sein soll, der fehlt. Nicht nur in den Köpfen derjenigen, die tatsächlich etwas zu sagen haben auf diesem Kontinent, sondern auch in den Köpfen derjenigen, die gern etwas zu sagen hätten. Die Not gebiert oft die besten Einfälle, in unseren Reihen aber haben die besten Einfälle doch bitte »realistisch« zu bleiben; es gilt, auf Sicht zu fahren und überhaupt das »Träumen« zu unterlassen. Europa ließe sich nicht machen, weil es immer im Moloch ende, in der Planierraupe. Oder: »Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen«, so der Stichwortgeber der Neuen Rechten, Altkanzler Helmut Schmidt. Dieses Motto hält sich bei allen »Vernünftigen« bis heute. Genau wie die Schlachtrufe der Auf-Sicht-Fahrer.

Vielleicht ist Europa zu kompliziert. Das komplexe System aus verschiedenen Kulturen, Religionen, Nationen, ja, vielleicht, mit all seinen Nationalismen und Vorbehalten und freundlichen wie feindlichen Verstrickungen machen den Kontinent schwer, als politische Einheit undenkbar. Wie soll das unter einen Hut passen? Wie die alten Feindschaften begraben werden? Und, anlässlich der letzten Diskussionen über eine Machbarkeit von Abschiebungen: Ist uns die Zeit nicht ohnehin davongelaufen? 

Dabei sind die Diskussionen und Argumente nichts Neues. Europa gab es nicht und Europa gibt es nicht. Einigkeit war aber schon öfters der Gradmesser für außenpolitische Handlungsfähigkeit. Joachim Fernau berichtete über die innergriechischen Konflikte der Antike:

»Athen war kein ›Vaterland‹ und Sparta war kein ›Feind‹. Diese blinden Kurzschlüsse haben sich in der Weltgeschichte tausendfach wiederholt. Manchmal haben starke Menschen sie nachträglich mit Blut und Eisen korrigiert. Lincoln, Elisabeth I., Cavour, Bismarck –, wenn nicht, gab es eine ›verpfuschte‹ Historie. Die griechische wurde eine. 540 hätte Hellas ein Staat werden können. Sparta war der vom Schicksal Beauftragte, der Stärkste, der Gesündeste. Alle anderen Triebe des griechischen Baumes hätten beschnitten werden müssen. Sparta war die große Dogge, die gefüttert werden mußte. Aber die kleinen Spitze wollten das Gegenteil, und als 200 Jahre später der Wolf aus dem Norden kam, zerfetzte er sie alle.«

Der Wolf aus dem Norden, das war Philip II., der Vater von Alexander dem Großen. Es hätte genauso gut ein Perserkönig sein können oder ein anderer Barbar, der nur mächtig genug gewesen wäre. Unser Wolf aus dem Norden, das könnten die Russen, vielleicht Peking sein. Vielleicht waren es auch schon die Amerikaner, wer weiß? Unerheblich in dieser Rechnung ist, wer im Hellas das Sagen hat. Sparta, Athen, jemand anders? Wäre es für die europäische Souveränität ein Unterschied, wäre sie durch Napoleon begründet worden? Fragen, die die »Hearts of Iron«-Jugend mit »Nein« zu beantworten versucht. Nein, es müssen die Deutschen sein – mit dem ganzen Universalismus-Anhang, den man schon lang hinter sich wähnte. Dem Wolf aus dem Norden wird’s egal sein. 

Der Panavia Tornado war eigentlich seiner Zeit voraus. Ein bisschen von allem, ein bisschen von nichts. Schwenkflügel, wie sie schon die US-amerikanische F-111 oder die sowjetische MiG-23 hatten. Ein Abfangjäger, weil die Briten einen Abfangjäger haben wollten, ein Jagdbomber, weil die Deutschen einen Jagdbomber brauchten. Aber eine stabile Plattform, entwickelt von traditionsreichen Unternehmen. Panavia kennt kein Mensch, Messerschmitt, Fiat, Bristol, Hawker dagegen schon. Alle irgendwie daran beteiligt. Auch wenn es Tornados waren, die durch den serbischen Nachthimmel pfiffen, immerhin blieb keines der Flugzeuge und keines der Besatzungsmitglieder auf der Strecke. Was man vom US-amerikanischen Tarnkappenbomber F-117 nicht sagen konnte. Trotzdem muss die Herstellung und Wartung durch ein undurchsichtiges Gewirr von Unternehmen und Subunternehmen, in ganz Europa angesiedelt, organisatorisch betrachtet ein schwieriges Projekt gewesen sein. Größere Exporterfolge konnte man nicht feiern. Lediglich die Saudis kauften einige Maschinen, die sie bis heute gegen die Huthi-Rebellen im Jemen einsetzen. Das mehr oder minder nachfolgende Europa-Projekt, der Eurofighter, wird zwar in eine Vielzahl von Ländern exportiert, doch gilt er vielen als Fehlschlag; ein Flugzeug, das aus seiner Ausgangslage als Luftüberlegenheitsjäger in zu viele Rollen gepresst werde, mit technischen Mängeln und ohne die Robustheit eines Tornados. Auf seine Feuertaufe in innereuropäischen Konflikten wartet der Deltaflügler aber noch. Belgrad dankt. 

Für die vielen Serben ist Deutschland, Europa vielleicht, nicht der fernausche Feind geworden, den grauen ECR-Fliegern des Frühjahrs 1999 zum Trotz. Über Kollateralschäden, Opfer an Zivilisten in Serbien schweigt sich die Bundeswehr aus. Wenn die HARM-Rakete auf ein Radargerät einer erkannten Luftabwehrstellung zuschießt, der serbische Soldat unten dann aber das Radar abschaltet, fliegt die Rakete nur noch grob in die Richtung, wo eben noch das Signal herkam. Wenigstens einer der Flugkörper soll so seinen Weg bis nach Ungarn gefunden haben. Auch hierzu hört man von offizieller Stelle nichts.

Wir werden also genau hinhören, was die Serben dazu zu sagen haben. Was sie über Europa wissen. Wir, das sind Philip Stein, Benedikt Kaiser und ich; wir wurden eingeladen, in Belgrad zu sprechen, im September. Bücher, Verlage und Wirtschaftsprogramme werden besprochen werden; hauptsächlich werden wir aber ein junges Europa in den Mittelpunkt rücken. Kein Selbstfindungstrip, sondern Spurensuche für diejenigen, die noch nicht alles gefunden zu haben glauben.

Die F-35 des US-amerikanischen Herstellers Lockheed Martin ist eines der modernsten Kampfflugzeuge der Welt. Neben der Tarnkappenfähigkeit ist die Maschine für eine Vielzahl von Rollen geeignet, vom Luftüberlegenheitsjäger bis hin zum Träger von Atomwaffen. Als Reaktion auf den Ukraine-Krieg hat die Bundesregierung beschlossen, 35 F-35-Jets zu kaufen, um die veralteten Tornados zu ersetzen. Stückpreis: Rund 150 Millionen Euro. Die ECR-Fähigkeit, also das Aufspüren und Bekämpfen gegnerischer Luftabwehrstellungen, soll durch kampfwertgesteigerte Eurofighter erfüllt werden. Bis die ECR-Eurofighter bereit sind, werden allerdings noch Jahre vergehen, wie es aus der Industrie heißt. Die F-35 könnte die Aufgabe möglicherweise übernehmen. Was das für das deutsch-französisch-spanische Future Combat Air System bedeutet, ein europäisches Programm zur Entwicklung eines »Kampfflugzeugs der Zukunft«, steht in den Sternen.

(Autor: Volker Zierke)

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